Kritikfähigkeit 2.0 und Pausenhof-Politik

Wir schmeißen wohl nicht mehr mit Geschirr, wenn wir sauer sind, sondern mit Twitter-Pfeilen. Einfach reden, dann denken. Oder offensichtlich gar nicht denken.

Kritikfähig? Ja, ja, bla bla – seinem Ärger kann man heute ganz ungefragt und bequem von zu Hause aus Luft machen, warum also direkt aufregen? Nirgends lässt es sich so schön überlegt auskotzen, wie bei Twitter oder Facebook oder auf sonstigen sozialen Netzwerken. Einfach ein paar wütende Sprüche und fiese Seitenhiebe in die Tasten hauen und schon geht es einem besser. Das erwarten wir zumindest von frustrierten Pubertierenden, die in der Schule noch nicht ausgiebig über die Konsequenzen und Gefahren des nie endenden Internetgedächtnisses aufgeklärt wurden. Oder von AfD Wählern. Aber eigentlich nicht von jemandem, der in Zukunft eine ganze Nation regieren soll. Naja, überrascht hat es uns in diesem Fall nicht.

Die Generation, die noch mit Polyfon-Klingeltönen, nie leer werdenden Handyakkus und „Hilfe ich bin auf das Internet gekommen!“-Panikattacken groß geworden ist, hat im besten Fall damals auf seinem SchülerVZ Account wie folgt abgelästert: „Hassfach: Chemie“ oder „Was ich nicht mag: Regentage“. Für mehr blieb keine Zeit, schließlich musste der Computer irgendwann ausgemacht werden. Heute hat sich das ganze ins Unermessliche gesteigert. Wir hassen alles und jeden, der eine andere Meinung hat. Wir sitzen in der Bahn und trollen ein bisschen herum. Was? Eine Katze hat ein Kostüm an? Tierquälerei! – Was? Der Redakteur fand das Konzert einer Band schlecht? Rassist! – Was? Meryl Streep prangert mich öffentlich an? So eine vollkommen überbewertete Schauspielerin. 

Diese wurde jüngst bei den Golden Globes mit dem Cecil B. DeMille Award für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. In Meryl Streeps Dankesrede sprach sie von der Vorstellung, die sie am meisten im letzten Jahr berührt hat. Und zwar negativ. Ohne Trumps Namen direkt zu nennen, erzählte sie von dem Moment, als dieser bei einer Wahlkampfrede einen geistig behinderten Reporter nachgeäfft habe – zur Belustigung der Zuschauer. „Wenn die Mächtigen ihre Position benutzen, um andere zu tyrannisieren, dann verlieren wir alle“, so ihr Fazit. Darauf Donald Trump: Challenge accepted. Es ist fast schon ein bisschen lustig, den Vorwurf sich menschlich nicht korrekt verhalten zu haben, direkt mit dem nächsten unmöglichen Angriff zu befeuern. Per Twitter. Wie erwachsen.

Man bekommt fast das Gefühl, man befinde sich auf dem Pausenhof. In einer Ecke stehen die coolen (Hollywood) Kids, in der anderen Ecke der selbst ernannte Störenfried und irgendwie gewählte Klassensprecher, der von keinem Ernst genommen wird, aber eigentlich nur dazu gehören möchte. Wer ihn aber nicht liebt, soll ihn zumindest fürchten – erst recht nachdem er auf der Schulkonferenz von der talentiertesten Schülerin hinterfragt wurde. Also gleich mal um sich schlagen, um ein bisschen Macht zu demonstrieren. Per Handy, damit es auch jeder mitbekommt. Keine guten Argumente zur Hand? Dann doch einfach mal persönlich werden. Das eigentlich Infantilste an diesem ganzen Tweet ist aber das „She is a …“ am Ende. Unsere Vorschläge für die Fortsetzung wären: … a woman! … a great-rated actress! … a brave voice!

Wir können nur hoffen, dass diese Pausenhof-Politik nicht zur Normalität des künftigen Präsidenten wird. Schließlich wären Tweets à la „Die EU ist doof!“ oder „Vladi lügt – und Pelzmützen stehen ihm nicht“ dann tatsächlich ein Grund das Internet wieder abzuschaffen. In der Stellenbeschreibung für den neuen Präsidenten muss doch irgendwo das Wort „kritikfähig“ oder „krisensicher“ gestanden haben – und dass Twitter ein soziales Netzwerk ist und keine Waffe für Wutausbrüche. Getreu dem Motto „Die Klügere gibt nach“ hat sich Streep zumindest nicht auf das Niveau herab begeben – und das sollten wir uns abgucken.

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