Es gibt Dinge, die lassen sich schwer erzählen. Zum Beispiel Krieg. Im Juli letzten Jahres brach so ein Krieg ins Innere Tel Avivs, einer Stadt, die ich mehr liebe als jede andere.
Schneller Telefonnummernaustausch im Schutzbunker, ein doppelter Anisschnaps auf die letzte, abgefangene Missile-Rakete und Israelis, die vom Himmel gefallene Raketen-Brocken nach imaginierten, im Stahl stehenden Botschaften absuchen: Das sind Fluchthelfer in meinem Kopf, Versuche, eine Sprache zu finden für die Normalität des Krieges und das Trauma, das er mit sich bringt.
In den meisten Reiseberichten über Tel Aviv kommt der Krieg gar nicht vor – wenn, dann als trockene Reisewarnung oder vermeintlicher „thrill on the edge“. Man liest von dem Gefühl doch so aufregenden Lebens im Ausnahmezustand. Spätestens seit den 00er-Jahren, sprich nach zwei palästinensischen Intifadas und dutzenden Suicide Bombings, ist diese Vorstellung schlicht absurd. Fast alle meine israelischen Freunde kennen das aus ihrer Kindheit: Yigal Amir, ein rechter Israeli, ermordet 1995 vor laufender Kamera den damaligen Premier Yitzhak Rabin und damit die Hoffnung auf Frieden gleich mit. Bilder blutiger Vierecke, die mal Autos waren. Die Angst vor dem Busfahren. Hinter dem Denkmal des ersten Attentats auf Tel Aviv dieser Art nahe Dizengoff Street, wo 22 Menschen ihr Leben ließen, ist heute der Eingang zu einem American-Apparel-Geschäft. Wer rein will, wird erst mal durchsucht. So weit, so hart.
Die Insel Tel Aviv
Dennoch: Der Charme Tel Avivs, diese scheinbar unendliche Jugendlichkeit, ist kaum zu leugnen. Sie ergibt sich – das versteht man spätestens nach dem einen oder anderen Moment der Angst – aber gerade nicht aus oder wegen dem Konflikt, sondern trotz des Konflikts. Wer Israel kennt, weiß: Tel Aviv gehört eigentlich gar nicht dazu. Es ist eine mondäne Insel oder, wie Israelis sagen, „The Bubble“: eine Seifenblase, unberührt von den Schockwellen der Politik und der Strenge der Tradition, dafür mit zerbrechlichem Panzer, einer hauchdünnen Membran.
Der gleichnamige Film des israelischen Filmemachers Eytan Fox erzählt eine Tel Aviver Liebesgeschichte zwischen einem ungeouteten palästinensischen Extremisten, der sich als Jude ausgibt, mit einem IDF-Soldaten, der mit einer straighten Designerin zusammenwohnt. Ein Fantasieprodukt, das doch ein klein wenig über die Stadt aussagt, deren Name „Frühlingshügel“ bedeutet, wo Nachtleben irgendwo zwischen Familienessen und Drag-Show abhebt und an der Kreuzung von Techno, Art Opening und Strand zu Ende geht.
Die Utopie lebt
Im „Ana Lulu“, einem Club in Jaffa, einer an Tel Aviv grenzenden arabischen Kleinstadt, unterscheidet an einem bestimmten Punkt niemand mehr, wer nun Jude, Araber, arabischer Jude, Tourist, schwul oder Anwalt ist. Hinter den Rauchschwaden des halbrunden Kellergewölbes scheint sich die Utopie eines universalen Israels wenigstens für den Zeitraum von ein paar Songs tatsächlich einzustellen. Die kulturelle Distanz zwischen Tel Aviv und Jerusalem, in Wirklichkeit weniger als eine Stunde Fahrtzeit, wirkt hier größer als die zwischen Tel Aviv und Berlin, Tel Aviv und New York oder London.
Sicher, die Stadt ist ein Reagenzglas emotionaler und politischer Widersprüche. Die Vision des sozialistischen Orangenpflücker-Zionismus aus den Anfangstagen ist im neoliberalen Hochsicherheits-Israel von heute – inklusive Besatzung der Westbank und Gazas, inklusive Rassismus, inklusive eines gewaltigen Rechtsrucks in den letzten Jahren – schlicht undenkbar. In Tel Avivs Kaffeehäusern und Bars lebt sie dafür beherzt weiter. Hier trifft sich die akademische Linke, treffen sich Literaten, Künstler, Hipster und andere, schreiben, diskutieren, flirten, tanzen, als sei das Leben in Tel Aviv nicht völlig überteuert und als hätten sie wirklich alle Zeit der Welt.
Keine Weltstadt, sondern ein Shtetl
Doch Tel Aviv ist auch: eine Miniatur seiner selbst. Wer hier gelebt hat, weiß: Unbemerkt bleibt kaum etwas. Gerüchte über dich finden sich schneller als du einen Parkplatz. Geografisch und insofern auch in der Weltanschauung ist Tel Aviv keine Weltstadt, sondern ein „Shtetl“, ein bisschen provinziell. Doch selbst das ist charmant: Israelis wollen stets alles über einen wissen. Den Kommentar dazu bekommst du auch dann zu hören, wenn du nicht danach gefragt hast. Das Temperament der Stadt ist bei aller Säkularität doch jüdisch: Nicht selten hat man das Gefühl, von zu viel Liebe zerlegt zu werden.
Architektur wie ein Jenga-Turm
Architektonisch wirkt Tel Aviv wie ein Jenga-Turm, der darauf wartet, dass jemand das nächste Holzstück herauszieht – bis die Fassade zerfällt. Man stelle sich einen kleinen Spaziergang vor. Startpunkt ist Habima Square, in den 1920ern als Akropolis entworfen, 1948 als Gründungsstätte der israelischen Armee genutzt und im Heute vom vielleicht renommiertesten Bildhauer Israels Dani Karavan als Theaterplatz gestaltet. Von hier aus läuft man über den Rothschild Boulevard vorbei an den Bauhaus-Fassaden und dem ehemaligen Herzstück der Proteste aus dem Jahr 2011 für soziale Gerechtigkeit und billigere Mieten. Bei annähernd 40 °C erkämpfte sich die israelische Linke hier ihre Selbstachtung zurück und blockierte mit tausenden Zelten, Impro-Küchen und ohne Schlaf drei Monate lang den Alltag einer ganzen Stadt.
Gegen Ende der Promenade biegt man links ab nach Süd-Tel-Aviv. In wenigen Minuten verändert sich die Bau- und Menschensubstanz. Junkies wie Straßengeister. Man läuft weiter und befindet sich nahe der Central Bus Station, einem einmal als Konsumtempel angelegten Megakomplex, heute merkwürdig verruchter Busbahnhof. Der Großteil der Menschen hier sind Flüchtlinge aus Eritrea oder Sudan, das Straßenbild hat sich in knapp 15 Gehminuten komplett gewandelt, es wirkt wie auf einem anderen Planeten.
Tel Aviv braucht den Wandel
Ohne seine Ambivalenzen und Widersprüche wäre Tel Aviv nicht, was es ist: sprichwörtlicher Frühlingshügel, Ort der Liebe, des Essens, der geistigen Aktivität, des feinen, auf den Lippen liegenden Salzfilms. Aber die meisten, die hier leben, wissen auch: Ohne einen ernsthaften politischen Wandel (der von innen kommt, nicht von außen) ist Tel Aviv und das, was wir an der Stadt lieben, kein Zukunftsmodell, sondern eher wie ein hysterisches Restzucken kurz vor dem Absturz in Langeweile – oder Schlimmeres.
Wenn Leute mich heute nach dem Krieg vom Sommer 2014 fragen, dann spiele ich meine Erfahrung herunter. Immerhin war das Schlimmste an dem Krieg – das steht tatsächlich außer Frage – etwas, von dem ich selbst nicht direkt betroffen war: der Tod 1.492 unschuldiger Zivilisten in Gaza (UN-Angaben), darunter Kinder. Was ich in meiner Antwort meist auslasse: Wenn ich an die vom Schall einer abgefangenen Rakete beinahe zerfetzte Fensterscheibe des Cafés denke, in dem ich sitze, oder an Berichte von Freunden, die erzählen, wie schwierig es ist, ihre Kinder zu zwingen, sich bei Alarm auf den Boden zu werfen, an Nicht-Freunde auf Facebook, die mich Verräter nennen, oder an Hunderte durch Jaffa marodierende Männer, die „Tod den Arabern!“ rufen, dann frage ich mich ernsthaft, wie lange meine geliebte Seifenblase noch fliegt.
Hannos Hot Spots
Essen
Joz Ve Loz
Es gibt hier kein festes Menü, sondern jeden Tag eine neue leckere Überraschung, kleine Portionen für mittlere Preise. Das Restaurant gilt als absoluter Geheimtipp für Künstler und Andersdenkende und verwandelt sich auch manchmal spontan zum Tanzlokal.
Gevulot Street 5 (nahe Neve Zedek Tower)
facebook.com/JozVeLoz
Zakaim
Veganes Restaurant mit offener Küche und lokalen Zutaten. Unbedingt das Zucchini Freekeh und den Mangosalat auf Jerusalem-Art probieren!
Simtat Beit HaSho’eva 20 / Allenby 98
Container
Restaurant, Bar, Art Space und Music-Lounge in modernem Industrie-Ambiente. Kulinarisch bekannt für guten Fisch mit Meerblick.
Warehouse 2, Jaffa Port
container.org.il
Shuk Ha’Karmel
Food-Markt, besonders Freitag vormittags.
HaCarmel Street 11
Souvenirs
Jaffa-Flohmarkt, nur freitags.
Yefet Street, Jaffa
Feiern
Breakfast Club & Milk Bar
Elektro-Underground-Club zum Nächtedurchtanzen in der Innenstadt.
Sderot Rothschild 6
breakfast-milk.com
Har Sinai
Hippe Bar mit Live-Beats. Im Sommer verlagern sich die Bar-Flys auch gerne mal vor die Tür.
Har Sinai Street 2
Pasaz
Underground-Bar mit unprätentiöser Einrichtung. Von Old School HipHop bis Indie Rock feiert Tel Avivs Partyszene hier jeden Tag zu anderer Musik.
Allenby 94
Kultur
Tmunah Theatre
Konzert- und Theater-Venue.
Soncino Street 8
tmu-na.org.il
Suzanne Dellal Centre
Beliebt aufgrund Israels berühmtesten Tanz-Ensembles Bat Sheva sowie angebotener Anfängerklassen und großartig inszenierter Tanz-Performances, die hier stattfinden.
6 Yehieli Street
suzannedellal.org.il
Tel Aviv Museum of Modern Art
Unter anderem mit einer großer Auswahl an Werken israelischer Künstler von Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. Seit 2011 mit angeschlossenem Neubau.
27 Shaul Hamelech Boulevard
tamuseum.org.il
FOTOS: Paul Aidan Perry