Wir haben den Fotografen Joseph Wolfgang Ohlert in seiner Berliner Wohnung getroffen und über Identität, Sexualität und die Zukunft gesprochen. Der Anlass? Sein neues Buch „Gender as a Spectrum“.
J.W.O. sitzt in seiner Küche. Die Wände seiner Wohnung sind voll mit Postern, Fotoautomaten-Schnappschüssen, Selbstporträts, Zeichnungen, Ausdrucken und angesammelten Gegenständen. Wie die komische Pappgestalt am Ende des Flurs, die aussieht wie die „Berghain“-Version eines „Game of Thrones“-Charakters: mit Lederoutfit, Maske und Muskeln. An der Schlafzimmertür hängt eine nackte Miley Cyrus mit Badeschaum an den Lippen, die jedem Besucher die Zunge entgegenstreckt. Joseph erzählt. Er wollte an erster Stelle Menschen und nicht Geschlechter porträtieren. Getreu dem Motto „don’t judge the book by its cover“ sagt er: „Es sollte eine Art Fortsetzung meiner Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule für Fotografie sein. Ich wollte damit folgende Fragen beantworten: Was definiert den Menschen? Was ist der hetero-normative Typ? Was sind Randgruppen? Wo stehe ich als schwuler Mann in diesen ganzen Randgruppen?“ Während der Entstehung des Buchs „Gender as a Spectrum“ hat Joseph versucht, genau diese Fragen für sich, aber auch für den Rest der Welt in Form ehrlicher Bilder zu beantworten. „Ich wollte niemanden mit dem Buch entblößen. Kaey ist schon seit zehn Jahren in der Berliner Queer-Szene unterwegs und war so gesehen meine Vermittlerin. Sie hat die Leute angesprochen und hat dann gesagt: ,Hey, das ist ein Freund von mir, er ist Fotograf. Hast du Lust, dich von ihm fotografieren zu lassen?‘ Und so sind die intimen Porträts entstanden.“ Die Bilder halten einen Moment in der Gegenwart fest, die Interviews erzählen eine vergangene Geschichte, aber die Message wird unser zukünftiges Zusammenleben (vielleicht) verändern. „Das Ziel war nicht, das Buch für Queer-Leute zu schreiben, sondern für alle.“ Laut Duden ist das Spektrum ein „Band in den Regenbogenfarben, das entsteht, wenn weißes Licht durch ein gläsernes Prisma fällt und so in die einzelnen Wellenlängen zerlegt wird, aus denen es sich zusammensetzt“. Das regenbogenfarbene Band ist das Buch, das Prisma Josephs Kamera und die Menschen, die er porträtiert, sind die verschiedenen Wellenlängen, aus denen sich das Buch zusammensetzt.
ÜBER IDENTITÄT
„,Identität‘ oder ,Selbstfindung‘ sind für mich ähnliche Begriffe wie ,Glück‘: Sie haben keinen Endpunkt. Es gibt Momente im Leben, in denen man denkt: ,Hey! Hier stehe ich gerade, hier bin ich‘, und dann sind sie wieder weg und man sucht weiter und entwickelt sich weiter. Es geht stetig voran. Man kann sich nicht ,selbst finden‘. Dafür müsste die Zeit stehen bleiben. Ich habe letztens einen Tweet von Kanye West gesehen, in dem es genau darum ging. [lacht] Er schrieb: ,You don’t know me.‘ [sucht dabei nach dem Tweet] Ach Mist, ich finde es nicht mehr. Egal. Er schrieb, dass man nicht sagen könne, man würde ihn kennen, wenn man ihn länger nicht gesehen hätte. Weil er sich dann schon weiterentwickelt habe. Das ist genau das, was ich meine! ,Identität‘, genauso wie ,Selbstfindung‘, ist ein flexibler Begriff. Es ist ,work in progress‘ – wie so Vieles im Leben.“
ÜBER GENDER
„Ich hatte, bevor ich mit dem Buch anfing, selber keine Ahnung, was hinter dem Begriff ,Gender‘ steckt. Meine Meinung war eher eine Mainstream-Meinung: Es gibt Mann, Frau und irgendwas dazwischen. Ich habe nicht verstanden, dass man Gender auch als etwas Flexibles sehen kann. Es gibt eigentlich keine Gruppe, in die man jemanden einteilen kann. Man sagt immer: ,typisch Mann‘/,typisch Frau‘, aber das existiert gar nicht. Jeder kann sich eigentlich sein eigenes Geschlecht aussuchen. Aber Menschen brauchen Schubladen … Die sind manchmal auch tatsächlich wichtig, um miteinander kommunizieren zu können. Wenn der Arzt jetzt kommt und du hast einen Notfall, dann ist es schon gut, dass er darüber informiert ist, welches Geschlecht oder welche sexuellen Praktiken du hast. Für solche Fälle sind Schubladen gut. Was ich allerdings überflüssig finde, sind Einordnungen wie bei der neuen Facebook-Option. Facebook hat letztes Jahr 60 verschiedene Kategorisierungen zur Auswahl des Geschlechts eingeführt. Überflüssig. Es ist ein netter Move, aber braucht man wirklich so eine Art der Charakterisierung? Warum kann man da nicht ein freies Feld hinsetzen, in das jeder reinschreiben kann, was er gerne sein möchte? ,Tomate‘, ,Stuhl‘ oder ,Träumer‘ zum Beispiel? [lacht] Warum muss man es überhaupt angeben oder definieren? Es geht ja eigentlich auch niemanden etwas an, was jemand zwischen den Beinen hat. Ah! Hier steht es [schaut auf den Bildschirm und liest vor]: ,androgyn, bigender, weiblich, Frau zu Mann (FzM), gender variabel, genderqueer, intersexuell, männlich, Mann zu Frau (MzF), weder noch, geschlechtslos, nicht-binär, Transgender männlich, Transgender weiblich‘ etc. Ich wäre, glaube ich, am nächsten an Zisgender dran, ,Cis Man‘ auf Englisch. Das ist das Pendant zu Trans: Als Trans bist du mit dem Geschlecht geboren, mit dem du dich nicht identifizieren kannst, und als Cis Man kannst du das. Mein Gender wäre Cis Man, meine Sexualität schwul.“
ÜBER SEXUALITÄT
„Man muss zwischen Sexualität und Geschlecht unterscheiden können. Viele verwechseln es. Wenn es um meine Sexualität geht, würde ich mich als schwul einordnen, ganz klar. Es ist nicht so, dass ich nicht offen für anderes wäre, aber ich würde schon sagen, dass ich schwul bin. Ich habe aber auch Transmänner kennengelernt, die mich total angemacht haben! Ich meine, sie sind an sich Männer, aber ich habe gemerkt, dass es mich gar nicht gestört hat, wenn sie kein männliches Glied hatten. Ich dachte nie: ,Okay, das ist jetzt komisch‘, weil ich den Menschen attraktiv fand. Man verspürt meistens die Tendenz, sich festzulegen, weil die Umgebung es von einem erwartet. Dabei ist die eigene Wahrnehmung auch etwas, was flexibel ist. Man kann nicht sagen: ,Du bist schwul und stehst auf diese bestimmte Art von Männern.‘ Auch die Typen, auf die ich stehe, können sehr unterschiedlich sein! Ich bin da total entspannt und merke, dass mein Dating-Leben auch davon beeinflusst wird, in was für einer Stimmung ich bin. Wie ich gerade mit mir selbst im Reinen bin. Das Schlimmste, was ich mir selbst in dem Moment antun könnte, wäre, mir einzureden, ich müsste mich für irgendwas oder irgendwen entscheiden. Ich möchte ein offenes Buch sein. Ich möchte mir nicht so viel Druck machen und mir erlauben, auch mal das Ganze ein bisschen entspannter zu sehen. Viele Menschen stehen sich selbst im Weg, wenn es um ihre Sexualität geht. Man sollte diese einfach frei ausleben können!“
ÜBER DIE ZUKUNFT
„Es wird nie ein Fantasia-Land geben, wo alle glücklich miteinander leben können. Wir sind alle unabhängige Individuen, aber dann wiederum von Natur aus so gemacht, dass wir ein Rudel brauchen und doch sehr abhängig von anderen sind. Wir suchen nach Selbstbestätigung, sobald wir uns mit anderen auseinandersetzen oder mit anderen konfrontiert sind. Also sind Kategorisierungen auch zum Selbstschutz da. Du speicherst zum Beispiel deine besten Freunde ab, steckst diese in Schubladen und machst sie zu. Aber dann macht dein Freund oder deine Freundin etwas Überraschendes und die Schublade wird wieder aufgerissen. Wir brauchen die Schubladen, um uns mental zu sortieren. Wir können nämlich nicht offene Bücher mit allen Menschen führen, die wir kennen. Deswegen brauchen wir die ,Ablage‘, dieses Bild, das wir von jemandem abgespeichert haben. Wenn die Gender-Thematik nicht mehr aktuell sein wird, kann es sein, dass wir uns etwas anderes überlegen, womit wir Menschen kategorisieren können. Dann wäre es auf einmal wichtig, welche Charaktereigenschaften du hast, und dann wirst du nur noch darüber definiert. Vielleicht ist das die Zukunft? Wichtig ist, dass man sich in dem Selbstfindungsprozess mit seinem Geschlecht und seiner Sexualität wohlfühlt. Und zukünftig auch alle akzeptieren, dass Gender wandelbar und auch nur eine Form des Menschseins ist.“
Das Buch „Gender as a Spectrum“ ist hier erhältlich.
Web: josephwolfgang.ohlert.de
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FOTO: JCS