Ronja von Rönne: „Lies das, Bitch!“

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Eine Bitch ist eine Frau, von der ein gewisses Verhalten erwartet wird und die sich dem verwehrt, because fuck you, that’s why. Credit: Alex J Reyes via Unsplash.
Empathie ist in, Ellenbogen sind out. Das war nicht immer so. Schriftstellerin und Bitch-Fan Ronja von Rönne mit einer Liebeserklärung an ein längst vergessenes Ego.

Als ich 14 war, hatte ich ein Tagebuch. Es war das typische Tagebuch eines Teenagers, das heißt, es finden sich ungefähr zwei Einträge darin, von denen der zweite immer so lautet: „Hallo liebes Tagebuch, entschuldige, dass ich mich die letzten zwei Jahre nicht gemeldet habe, war viel los, erzähl ich dir ein anderes Mal.“ Dann folgen nur noch sehr viele sehr leere Seiten. Etwas interessanter war der erste Eintrag. Nachdem ich nämlich fein säuberlich alle meine Noten im Halbjahreszeugnis notiert hatte (ja, die Art von Teenager war ich), stand dort: „PS: Heute hat mich einer in der Schule Bitch genannt und es sollte gemein sein, aber irgendwie hat es sich nur saucool angefühlt.“ Und zwei Zeilen drunter: „PPS: Vielleicht lass ich mir ‚Bitch‘ auf den Rücken tätowieren, wenn ich 18 bin.“ Unnötig zu sagen, dass ich für die Tätowierungsgesetze hier­zulande sehr, sehr dankbar bin und bis heute nicht mit einem „Bitch“-Schrift­zug gebrandmarkt bin. 

Eine Bitch hat eine aufrechte Haltung, ein erhobenes Haupt und es ist ihr völlig egal, ob man sie beschimpft: Sie lässt sich nichts gefallen.

Und trotzdem: Damals beeindruckte mich das Wort. Weil es stolz klingt und trotzig. Eine Bitch ist eine Frau, von der ein gewisses Verhalten (Zuneigung, Wärme, Verständnis, Ficken) erwartet wird und die sich dem verwehrt, because fuck you, that’s why. Die Frustration darüber passt in einen Sound, genauso gepresst, wie sich Enttäuschung nun mal anfühlt: ein gezischtes „Bitch“. 

Eine Bitch hat eine aufrechte Haltung, ein erhobenes Haupt und es ist ihr völlig egal, ob man sie beschimpft: Sie lässt sich nichts gefallen. Und um sie zu beleidigen, muss sie die Meinung des anderen überhaupt erst mal ernst nehmen. Die Bitch ist Antihaltung in Personifikation. An der Bitch sieht man die Macht der Umdeutung: Ja, ihr wolltet ein misogynes Schimpf­wort schaffen, aber der Bitch ist das egal, sie deutet sich die Welt, wie sie ihr gefällt, und nur das zählt. Und so wurde eine demü­ti­­gende Bezeichnung zur Auszeichnung von Willens- und Charakterstärke. Und zum Tattoo-Wunsch von 14-Jährigen. 

Die Bitch ist Archetyp aller Frauen, die die Welt braucht, aber die die Welt nicht brauchen.

Ich würde mir wünschen, dass die Bitch wieder stärker wird. Irgendwie wurde überbrodelndes Selbstbewusstsein verdrängt, vom Wunsch nach Individualität und Besonderssein. Der Bitch war es aber immer scheißegal, ob sie irgendjemand als individuell empfindet. Wer sich nicht als Teil der Masse empfindet, braucht sich auch nicht aus ihr hervorzuheben. Die Bitch hatte ihre drei Freunde, und wenn sie diese auch noch ver­loren hat, waren sie es sowieso nicht wert. Die Bitch war nie, niemals „offended“ von irgendwas, und wenn doch, zeigte sie der Welt schlicht den Mittelfinger, anstatt betroffene Tweets darüber zu verfassen. Die Bitch gab es schon vor dem Internet, immer schon. Sie ist Archetyp aller Frauen, die die Welt braucht, aber die die Welt nicht brauchen. Au­ßerdem trug die Bitch bauchfreie Tops und String-Tangas – das war vielleicht das Allercoolste an ihr. Denn diese Symbole hießen selbstver­ständ­lich niemals „Fick mich!“, waren nie ein Imperativ, sondern stellten im­mer nur klar: „Alter, ich könnte euch alle ficken, ich hab nur keinen Bock drauf.“ 

Irgendwo ist sie uns verloren gegangen, zwischen theoretischen Judith-Butler-Abhandlungen und #Metoo-Debatten. Das ist nicht mehr die Welt der Bitch. Sie lebt in der Realität, auf der Straße, sie kann Mutter von fünf Kindern in der Bronx sein oder Beyoncé. Sie ist Pop, nicht Intellekt, sie ist gelebter Feminismus, frei von allem, was nicht ihre Haltung ist. 

Denn natürlich hätte die Bitch sich nie dazu herabgelassen, irgendwelche Online-Artikel zu kommentieren oder auf schlechte Anmachen von schlechten Menschen überhaupt zu reagieren. Sie ist viel zu beschäftigt mit sich selbst, dem Mittelpunkt von allem. Manchmal ist sie schwach, das ist sie sicher und das gönnt sie sich. Dann hört sie „Tik Tok“ von ­Kesha, putzt sich die Zähne mit einer Flasche Jack Daniels und schon geht es wieder halbwegs. Vielleicht hätte ich mir das Tattoo doch stechen lassen sollen. Einer Bitch wäre es schließlich scheißegal gewesen, ob ihr Tattoo zehn Jahre später wieder völlig out ist. 

Ronja von Rönne
Die 26-jährige Berlinerin twittert unter @sudelheft über alles, „was das Menschsein zur Unverschämtheit macht“. Aber Ronja kann weit mehr als 140 Zei­chen: Sie schreibt Bücher – ganz tolle wie „Wir kom­men“ oder „Heute ist leider schlecht“. Für die Blonde-Kolumne tippt sich Ronja ihre Erfahrungen zum jeweiligen Heft-Schwerpunkt von der Seele.
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