Die Perfektion neigt sich zum Ende. Wir haben uns an der ewigen Symmetrie satt gesehen. Anti-Models laufen Runway-Schönheiten den Rang ab: Charakterköpfe statt Einheits-Beauties! Warum?
Vor nicht allzu langer Zeit war der größte Makel, den ein Model haben durfte, ein Muttermal über der Lippe. Jetzt laufen Charakterköpfe über den Laufsteg. Winnie Harlow wird für den Umgang mit ihrer Hautkrankheit Vitiligo, die Pigmentflecken an ihrem ganzen Körper erzeugt, gefeiert. Durch den Gendefekt Ektodermale Dysplasie hat Melanie Gaydos keine Haare, Nägel und Zähne und arbeitet trotz ihres ungewöhnlichen Aussehens erfolgreich als Model. Und eine Beinprothese hält die Bloggerin Cacsmy Brutus nicht davon ab, Outfit-Fotos zu posten oder für Kampagnen vor der Kamera zu stehen.
„In Zeiten von Social Media schauen wir uns Leute nicht mehr an, weil sie hübsch sind – wir schauen sie an, weil sie uns interessieren, weil wir ihren Geschichten folgen wollen“, sagt Karley Sciortino. Die Gründerin des Blogs Slutever.com steht selbst gelegentlich als Nodel (No Model) vor der Kamera. Das Label Kate Spade New York wählte die Autorin nicht ihres Aussehens wegen aus, sondern weil sie einfach sie selbst ist. Sogenannte Nodels finden sich auch auf den Laufstegen von Gosha Rubchinskiy, J.Crew und in Modemagazinen. Sie werden auf der Straße oder bei Instagram gecastet. Auf diese Weise prägen soziale Medien immer stärker das Schönheitsideal des Betrachters und lassen ihn hinterfragen, was er bislang als schön empfand. Der Philosoph Nelson Goodman sagt: „Das sogenannte Paradox der Hässlichkeit sorgt dafür, dass wir gerade die Dinge, die nicht in unsere klassische Kategorie ,schön‘ passen, als interessant empfinden.“ Sigmund Freud erklärte die Faszination für das Nicht-Schöne damit, dass sie überraschend sei und uns somit von der perfekt inszenierten Langeweile befreie. Das Gegenteil von schön ist also keinesfalls hässlich. Bestes Beispiel: Lena Dunham. In ihrer Serie „Girls“ stellt sie immer wieder selbstbewusst ihre Speckrollen zur Schau und zeigt uns damit, dass die Normalität viel spannender ist. Die lässt sie sich auch nicht wegretuschieren, wenn sie mit ihrer Kollegin und Freundin Jemima Kirke für das Dessous-Label Lonely wirbt. Das Streben nach Durchschnitt zeigt sich auch im Dad Bod, der neuen Idealfigur der Männer, die kein Sixpack mehr anstreben, sondern den gemütlichen Körper eines Familienvaters. Auf das Prinzip „heroes and characters“ setzt auch die Londoner Anti-Agency. Sie bietet echte Persönlichkeiten als Models an, immer mit direktem Link zum Instagram-Account des jeweiligen „Beauty“. Fernab von dem, was wir bislang auf dem Laufsteg gesehen haben, castet auch Del Keens für seine Berliner Agentur Misfit Models. Keens selbst hat trotz – oder gerade wegen – seiner herunterhängenden Gesichtszüge und schiefen Zähne bereits für Calvin Klein, Levi’s und Diesel gemodelt. Er vertritt Kleinwüchsige, Behaarte, am ganzen Körper Tätowierte, alle, die in anderen Modelagenturen keine Chance hätten.
Selbst unter den eher klassischen Models finden sich immer mehr Gesichter, die nicht so leicht in Vergessenheit geraten: Anna Cleveland, Tochter des erfolgreichen Models Pat Cleveland, wird vor allem durch ihr langes Gesicht und ihre große Nase wiedererkannt, die Amerikanerin Molly Bair wurde früher wegen ihres ungewöhnlichen Gesichts und ihrer abstehenden Ohren gehänselt und Katie Moore fällt vor allem durch ihren kurzen roten Bob und das Fehlen ihrer Augenbrauen auf, während die 21-jährige Dilone so androgyn wirkt, dass sie ihre Karriere auf der Menswear-Show von Bottega Veneta begann.
Was früher gezupft, versteckt oder wegtrainiert wurde, gehört heute dazu – Achselhaare sind inzwischen genauso erwünscht wie das Zurschaustellen offensichtlicher Schwächen: Snapchat-User sitzen im Bademantel am Küchentisch und erzählen von ihrem Tag; andere senden aus unaufgeräumten Wohnungen ungeschminkte Selfies in die Welt. Social-Media-Experte Philipp Steuer, der ein Buch über die Snapchat schrieb, sagt: „Auf der App wird das Unperfekte zelebriert.“ Während Grimassen und unvorteilhafte Schnappschüsse mit den Hashtags #UglyFace oder #IamFlawsome auch Einzug bei Instagram halten, haben einige User bereits einen Finstagram-Account: ein Zweitprofil, das nur ungünstige und verrutsche Fotos zeigt – natürlich ganz ohne Filter oder Nachbearbeitung. Während Mode früher bloß zum Träumen anregte, dient sie heute auch als Projektionsfläche für die eigenen Makel: Bei der letzten Fashion Week in Mailand hat etwa der malaysische Designer Moto Guo einige seiner Models mit Akne auf den Laufsteg geschickt. Rote Pusteln und entzündete Stellen, die zeigten, dass eben nicht jeder mit makellos glatter Haut geboren wird. Hautunreinheiten muss niemand mehr verdecken. Das zeigt auch der neue No-Make-up-Trend: Alicia Keys ging kürzlich ungeschminkt auf den roten Teppich; Adele zeigte sich so auf Instagram; Heidi Klum saß im natürlichen Look in der Front Row der New York Fashion Week; das Plus-Size-Model Ashley Graham zeigt online unretuschierte Versionen ihrer Magazin-Cover und steht zu ihrer Cellulite; Chrissy Teigen macht Nahaufnahmen von ihren Schwangerschaftsstreifen, die wir durch den Instagram-Account @LoveYourLines gerade lieben lernen, weil darin Frauen regelmäßig die Geschichte hinter ihrer Bindegewebsdehnung erzählen. Auch Salma Hayek gewinnt Dehnungsstreifen etwas Positives ab: „Dein Körper ist nicht ruiniert. Du bist ein verdammter Tiger, der sich seine Streifen verdient hat.“
Der Sättigungsgrad der Gesellschaft ist erreicht. Sie hat genug von glatten Leinwänden, sie sehnt sich nach Persönlichkeiten und einem vielfältigen Schönheitsideal. Nach all den glattgebügelten, artifiziellen Jahren strebt sie nach Wahrem, nach Authentischem, nach einer alternativen Ästhetik – als das portugiesische Designer-Duo Marques’Almeida im letzten Jahr den renommierten Nachwuchspreis des Luxuskonzerns LVMH mit einer Kollektion gewann, die nicht abgenäht, sondern abgerissen und an allen Seiten ausgefranst war, gaben die Designer nach der Verleihung ein altes Zitat von Helmut Lang zu Protokoll: „In der Mode geht es um Haltung, nicht um Säume.“ Word!
FOTOS: Marlen Stahlhuth // Paperboats.me
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