1 Frage, 3 Antworten: Ist Schwäche die größte Stärke?

Zeit für eine neue Aufklärung! BLONDE hinterfragt den aktuellen Zeitgeist und bekommt drei Antworten.

Headerfoto: Lora Mathis

Wenn es um Liebe, Freundschaft und Glückseligkeit geht, sind Gefühle etwas absolut Großartiges. Negative Emotionen sind jedoch nur bis zu einem gewissen Grad gesellschaftlich akzeptabel. Depressive Phasen, wütende Ausraster, stundenlanges Weinen oder wechselhafte Launen sorgen in der Öffentlichkeit für gekonntes Wegschauen. Deshalb weinen wir nicht am Arbeitsplatz, schreien nicht ungehemmt drauflos oder erzählen nur hinter vorgehaltener Hand, dass wir schon seit einem Jahr eine Therapie machen. Wenn in unserer Gefühlswelt ein Orkan aufkommt, ziehen wir uns lieber in eine sichere Unterkunft zurück und warten ab, bis das Unwetter vorbei ist. Es soll uns ja bloß nichts um die Ohren fliegen. Das sieht die Radical-Softness-Bewegung anders, die Emotionen für teilbar und als Gesprächsstoff für eine Wohlfühlumgebung hält. Jeder soll geradeheraus sagen können: „Hey, meine Gefühle überwältigen mich gerade“, und offen darüber sprechen. Wenn niemand einen dafür als labil abstrafen würde, wäre unsere Gesellschaft definitiv eine andere. Das Emotionale würde nicht mehr dem Rationalen untergeordnet werden, niemand müsste mehr predigen, dass man ein dickeres Fell oder eine harte Schale braucht, um seine Verletzlichkeit zu verstecken. Doch wer sein Innerstes nach außen stülpt, macht sich besonders angreifbar, oder? Nicht wenn man den offenen Umgang mit Emotionen als größte Waffe sieht. Drei Personalities erzählen, wie das geht, und beantworten die Frage: Ist Schwäche die größte Stärke?

Ilgen-Nur Borali, 23

Foto: Jenny Schäfer

In der Musik wird viel über Freundschaft, Liebe und Ego gesungen. Das ist ein guter Anfang, aber für die Singer-Songwriterin Ilgen-Nur aus Hamburg noch nicht das Ende. Sie singt über Zukunftsängste und Unsicherheiten, darüber, verschmierten Lippenstift zu tragen und sich trotzdem wohl zu fühlen. Wie das geht, macht sie aktuell auf ihrer ersten eigenen Tour vor. @ilgennur

„Ich würde nicht unbedingt sagen, dass Schwäche die größte Stärke ist, aber es ist definitiv stark, seine Gefühle nicht zu unterdrücken und offen mit allem umzugehen. Besonders Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, neigen dazu, alles glamourös und toll aussehen zu lassen und damit den Bezug zur Realität zu verlieren. In der Musik oder Kunst sollten aber auch negative Sachen angesprochen werden, die Teil des Alltags sind.

Ich habe den Song ,No Emotions‘, in dem ich mich bewusst sehr verletzlich zeige. Ich rede sehr offen darüber, wie andere Leute mich wahrnehmen und wie ich mich selbst wahrnehme. Ich mache mich im Text sehr frei und fühle mich dadurch gestärkt, so etwas Ehrliches dann auch auf aggressive Art und Weise zu performen. Ich schreie und gehe bei Live-Auftritten ins Publikum und gucke Leuten direkt in die Augen. Ich merke immer wieder, wie unangenehm diese Nähe vielen ist, obwohl ich in dem Moment mehr Persönliches von mir vor einem Publikum preisgebe.

Mich macht vieles aggressiv oder wütend, Dinge aus meinem persönlichen Umfeld, aber auch Dinge, die in dieser Welt passieren und die ich nicht so sehen möchte, wie sie gerade sind. Es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Ich reflektiere, warum mich etwas Politisches oder Privates so frustriert. Ich tausche mich mit Leuten aus, die ähnliche Probleme haben. Das ist unfassbar wichtig. Es hilft extrem, Dinge nur aufzuschreiben oder auszusprechen. Das nimmt mir viel Ballast. Tiefgründige Dinge, die mich mehr als einen Song beschäftigen, spreche ich in der Therapie an, in der ich seit einem halben Jahr bin. Es ist so hilfreich, mit jemandem zu reden, der nicht mit dir befreundet ist, aber trotzdem dein privates Leben kennt und dir eine andere Perspektive geben kann, damit du daraus lernen kannst.

Für mich gibt es mehr als Männer und Frauen auf dieser Welt, aber trotzdem sind verschiedene Menschen (egal welchem Geschlecht sie sich zuordnen) von der Gesellschaft unterschiedlich betroffen. Dinge wie toxische Maskulinität sind auch für Männer extrem belastend, weil sie damit aufgezogen werden, dass sie immer stark sein müssen und keine Schwäche zeigen dürfen. Der offene Umgang mit Emotionen ist etwas, wovon alle profitieren können, die es zulassen.

„Therapien sollten für alle einfach zugänglicher werden.“

Damit Mental Health kein Tabu ist, müssen wir an der Erziehung, aber auch an der Repräsentation von Musik, Film und Kunst arbeiten. Insbesondere Therapien sollten wir allen zugänglich machen, damit viel mehr Leute dieses Angebot nutzen können ohne Angst vor Kosten oder Stigmatisierung. Viele mentalen Krankheiten sind von außen nicht erkennbar, aber wir sollten sie genauso ernst nehmen wie körperliche Krankheiten. Ich wünsche mir, dass wir uns alle unterstützen und Emotionen zulassen. Je häufiger, desto eher können wir alle Arten von Gefühlen normalisieren.“

Lora Mathis, 25

Radical Softness ist eine Waffe – so hat es die Künstlerin, Autorin und Musikerin aus San Diego, USA, in einem ihrer Werke formuliert. Damit gilt Lora für viele als Vorbild für diese Bewegung. In ihren Arbeiten untersucht sie, auf welche Weisen wir unterdrückende Systeme verinnerlichen und wie wir uns davon heilen können. @lora__mathis

„Ich rufe nicht dazu auf, krampfhaft emotional zu sein, sondern auf seine Gefühle zu horchen und sie nicht zu unterdrücken. Sortiere sie durch, untersuche sie gründlich und beobachte, wie sie dich beeinflussen. Es ist die größte Stärke, eine gute Beziehung zu sich selbst zu haben und alle Arten von Emotionen als ein Teil von sich zu betrachten, anstatt sie von sich wegzuschieben. Es ist keine Schande, verletzlich zu sein – und keine Stärke, Gefühle nicht zu zeigen.

„Wieso nur rational oder emotional? Wir wollen beides sein.“

Für mich ist Radical Softness tatsächlich die Idee, dass Emotionen ein Weg der Stärke sind. Sie können gegen politische Stigmata wirken, eine starke Gemeinschaft aufbauen und helfen, sich selbst zu heilen. Unsere Gesellschaft will, dass wir uns zurückhalten und Logisches und Emotionales trennen. Das sorgt dafür, dass wir uns oft gegenseitig verletzen, auch körperlich. Deshalb kann der Kampf mit radikalen Emotionen gegen diese kulturelle Haltung zur Waffe werden. Es ist ein Instrument, dagegen anzugehen, dass wir entweder rational oder emotional sein müssen – wir wollen beides gleichzeitig sein.

Neulich hat mir ein Freund spontan abgesagt. Dadurch fühlte ich mich unwichtig und verletzt. Und genau das schrieb ich ihm sehr ehrlich, anstatt meine Enttäuschung zu ignorieren. Ja, es kann peinlich sein, jemandem zu sagen, dass man verletzt ist. Aber eigentlich respektierte ich mich in diesem Moment bloß – und auch die Beziehung zu ihm. Meine emotionale Reaktion hat es uns beiden ermöglicht, offen zueinander zu sein. Die Menschen haben so große Angst vor ihren Gefühlen, dass sie vor anderen gern bestreiten, irgendwas zu fühlen.

Wenn wir Emotionen mit Schwäche verbinden, schaffen wir eine Stigmatisierung für jeden, der sich emotional nicht zurückhalten kann oder will. Um das zu überwinden, sollten wir offen über Erfahrungen sprechen, über Verwundbarkeit in Kontakt kommen, uns in einer Gemeinschaft verbinden. Es tut oft auch weh, alles zuzulassen, aber wenn wir öffentlich darüber reden, geben wir uns die Unterstützung und Bestätigung, die wir brauchen, um unsere Probleme durchzuarbeiten, ohne dass sie in den Wirren unseres Kopfs hängen bleiben. Ich glaube wirklich nicht daran, dass nur Reden alles heilt, aber ich möchte dabei helfen, eine Kultur der gegenseitigen Hilfe zu schaffen, in der jeder Verantwortung für seine Gefühle übernimmt, Emotionen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und die Möglichkeit hat, sein Innerstes ausführlich und ohne Scham zu untersuchen. Das ist nicht das Endziel, aber ein großer Schritt nach vorn.“

Alexandra Stanić, 27

Foto: Maximilian Salzer

Feministische Fotografien, tiefgründige Tweets und ehrliche Gefühle: Die Chefredakteurin der österreichischen „Vice“ hat sich „Soft & Radical“ auf die Fahne geschrieben. Sie schreibt nicht nur beruflich, sondern auch privat über ihre Erfahrungen zu Hass im Netz oder macht sich in Form eines „Pizza-Ta- gebuchs“ für Body Positivity stark. @alexandra_stanic

„Ich habe eine softe Seite, die mich aber nicht davon abhält, eine starke Meinung zu haben. Früher habe ich es vermieden, Schwäche zu zeigen, weil du dich als Frau mehr behaupten musst, als Männer es tun müssen. Bist du sensibel? Dann ist der Job der falsche. Bist du selbstbewusst? Dann bist du nicht weiblich genug. Bist du leidenschaftlich? Dann giltst du als hysterisch. Wie man es dreht, du kannst es nicht richtig machen.

„Ich geben offen zu, wenn mich Hetze getroffen hat.“

Es fühlt sich an, als würde ich lügen, wenn ich meine Gefühle unterdrücke oder nicht zeige, dass auch ich Zweifel habe, die an mir nagen. Du kannst mutig und ängstlich, stark und soft, radikal und vernünftig sein. Das eine schließt das andere nicht aus. Schwäche ist nicht unbedingt die größte Stärke, es ist eher ein Zusammenspiel aus mehreren Kom- ponenten: Sich seiner Gefühle bewusst sein, sich nicht dafür verurteilen und offen dazu stehen, das ist für mich wahnsinnig wichtig. Nicht nur für mich, sondern auch für den öffentlichen Diskurs. Ich zeige mich ständig verletzlich. Ich schreibe auf Instagram, dass ich mich so verloren wie noch nie in meinem Leben fühle. Ich schreibe über einen Shitstorm, der mir schlaflose Nächte bereitet hat, und ich gebe offen zu, wenn mich die Hetze getroffen hat. Manche meinten, ich hätte den Trollen genau das gegeben, was sie wollen. Nämlich dass ich an mir zweifle und es mir schlecht geht. Viele haben mir aber genau dafür positives Feedback gegeben. Die Mehrheit der Menschen weiß gar nicht, wie schnell Hate Speech von der digitalen in die analoge Welt übergeht und dass wir es deshalb auch zum Thema machen sollten.

Ich zweifle an den politischen Entwicklungen und sobald du dich als Frau in der Öffentlichkeit emotional politisch äußerst, machst du dich angreifbar. Dann geht es weniger um deine Meinung, sondern mehr um dein Aussehen oder deine ,Ungeficktheit‘… trotzdem höre ich nicht auf. Wir sollten offen über alles reden und Betroffenen zuhören. Wir müssen Tabus aufbrechen und Menschen nicht für ihre Entscheidungen verurteilen. Aber vor allem müssen wir ganz viel reflektieren.“

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