Der 25. November ist der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Dabei geht es nicht nur um körperliche Vergehen. Die vielen Formen des Missbrauchs haben eines gemeinsam: psychische Gewalt. Oftmals als Lappalie abgetan, hat diese nicht minder schwere Folgen für Betroffene. Ein wütendes Plädoyer für mehr Verständnis.
Über die Rechtmäßigkeit der weltweit verhängten Ausgangssperren wird nun seit Tagen diskutiert. Zeitgleich wird ein enormer Anstieg sogenannter häuslicher Gewalt befürchtet. Und an dieser Stelle möchte ich Margarete Stokowski zitieren: „Ich sag „sogenannte“, weil „häusliche“ für mich immer bisschen verniedlichend klingt.“ Als ich diesen Satz las, wurde mir schlagartig bewusst, auf welch subtile Weise der Klang eines Wortes unsere Wahrnehmung beeinflusst. Denn dieser Begriff verharmlost eine traurige Lebensrealität zahlreicher Frauen.
Eine 2018 durchgeführte BMFSFJ-Studie zeigt: allein ohne Quarantäne wurden in Deutschland knapp 313 Frauen täglich Opfer dieser Form des Missbrauchs. Und in Zeiten einer Pandemie? Die aktuellen Zahlen sprechen für sich: 30% mehr Meldungen häuslicher Gewalt innerhalb von nur 11 Tagen Quarantäne in Frankreich, Verdreifachung der Anzahl von Missbrauchsopfern in China, neun ermordete Frauen in weniger als zwei Wochen Quarantäne in Argentinien. Mitte März meldete die amerikanische Crisis Text Line einen schlagartigen Anstieg auf etwa 6000 Konversationen mit suizidgefährdeten Personen in einer Woche, die National Suicide Prevention Lifeline verzeichnet in kürzester Zeit eine Zunahme entsprechender Anrufe um 20 Prozent.
Während im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt primär sexualisierte und körperliche Gewalt thematisiert werden, rückt der Ursprung dieses Übels in den Hintergrund: emotionaler, narzisstischer Missbrauch. Dabei überwiegen psychische Misshandlungen im Kontext von Paarbeziehungen deutlich: in einer Studie des BMFSFJ (2014) gaben von insgesamt 2.147 Frauen rund 67% an, zwar keiner körperlichen, dafür aber psychischen Gewalt durch ihre (Ex-)Partner ausgesetzt gewesen zu sein. Für 358 der Frauen resultierte der emotionale Missbrauch in einer massiven psychischen Belastung, 196 wiederum wiesen starke körperliche Beschwerden auf. Das Bundesministerium schätzt, dass „etwa jede 6. Frau, die in einer Paarbeziehung lebt“ psychische Gewalt erleidet. Auch in eurem Umfeld wird es diese Frauen geben.
Doch wie erkennt man die oftmals subtilen Taktiken narzisstischer Täter*innen? Wie schafft man es insbesondere jetzt, sich von ebendiesen räumlich und emotional zu distanzieren? Und wie kann man als Außenstehende*r helfen?
Once you see it, you can’t unsee it. Denn emotionaler, narzisstischer Missbrauch läuft im Grunde immer nach demselben Muster ab – egal, ob sich dieser im familiären, beruflichen, freundschaftlichen oder partnerschaftlichen Kontext abspielt. Am Anfang steht die geradezu perfekte Phase des sog. Lovebombings: zwischen Täter*in und Opfer scheint eine tiefe, emotionale Bindung zu entstehen (grooming), (vermeintliche) Gemeinsamkeiten werden in den Fokus gerückt (mirroring), Zukunftspläne geschmiedet (future faking). Tatsächlich hat diese Phase für Täter*innen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung keinerlei emotionale Bedeutung. Sie dient einzig dazu, ein Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen (trauma bonding) sowie Aufmerksamkeit und Bestätigung zu generieren (narcissistic supply).
Auf dieses emotionale Hoch folgt eine permanente (mehr oder weniger subtile) Herabwürdigung und Verunsicherung des Opfers (discard phase). Das tiefe Vertrauensverhältnis wird aus dem Nichts zu emotionaler Kälte und Distanziertheit (silent treatment). Abwertung, die zunächst ein vermeintlich harmloser Scherz ist, schlägt um in degradierende Kommentare. Auch das bewusste Erzeugen von Eifersucht spielt nun eine Rolle: im Eltern-Kind-Kontext kann sich dies durch kontinuierliches Vergleichen zweier Geschwister zeigen („Wärst du bloß so wie X!“), in einer Partnerschaft werden plötzlich – surprise, surprise! – Ex-Partner*innen besonders häufig thematisiert (triangulation).
„Gaslighting teaches you not to trust yourself.“ – Emily Cain, @blooming_forward
Vor allem Menschen mit einer emphatischen Persönlichkeit neigen in solchen Situationen dazu, sich selbst und ihre Wahrnehmung anzuzweifeln. Die emotionale Abhängigkeit (co-dependency) wird spätestens dann zum Verhängnis, wenn Täter*innen ihre herabwürdigenden Aussagen und Handlungen herunterspielen oder leugnen (gaslighting).
Täter*innen täuschen zudem Empathie und Reue vor („Ich wollte dich nie verletzen! Du bedeutest mir so viel!“), um die emotionale Abhängigkeit des Opfers zu verstärken und eine Trennung durch die betroffene Person zu vermeiden (hoovering). Denn ein Ende dieser Beziehung hieße für narzisstische Täter*innen vor allem eines: ein großer Schaden für’s eigene Ego und der Verlust einer Quelle permanenter Bestätigung.
„It was unsafe to say no to him, so I had to say no to myself.“ – Emily Cain, @blooming_forward
Narzisstische Täter*innen nutzen abwegige Vorwürfe und verbale Aggression, um ihrem Opfer vor allem eines zu bereiten: Kopfschmerzen und ein schlechtes Gewissen. Ist eure legitime Gegenreaktion eine wütende, könnt ihr euch sicher sein, dass sie genau diese Wut gegen euch verwenden. Diese Form des Brainwashings resultiert oftmals in einer auf Verlustängsten basierenden Entschuldigung – seitens der missbrauchten Person. Das Opfer versinkt in Schuldgefühlen, die Täter*innen drohen derweil mit Suizid oder Gewalt, und verstärken so das bestehende Trauma des Gegenübers.
Das Ausüben von Kontrolle und Macht ist ein weiterer Grund für psychische Gewalt. Täter*innen, die sich in selbstverschuldeten Konfliktsituationen mit dem Opfer wiederfinden, verstärken ein Machtgefälle, indem sie eine Klärung des Konflikts bewusst vermeiden, Anrufe oder Nachrichten ignorieren (cliffhanging) oder Gespräche abrupt beenden (stonewalling). Diskussionen mit narzisstischen Täter*innen sind vor allem so nervenaufreibend und ermüdend, weil man das Gefühl hat, sich ständig im Kreis zu drehen, da Aussagen konstant widersprüchlich oder so vage sind, dass extrem viel Spielraum für Interpretation bleibt (wordsalad).
Je länger diese toxische Beziehung andauert, desto schwieriger ist Kommunikation mit dem narzisstischen Partner oder Elternteil, denn letztendlich gilt: alles kann falsch, nichts kann richtig sein (walking on eggshells). Aus jeder Lappalie kann ein neuer Konflikt entstehen; was gestern noch okay war, wird dir in ein paar Stunden oder Tagen zum Vorwurf gemacht.
„Don’t forgive them for they know what they did was wrong, but they did it anyway.“ – Sophie King
Zwischenmenschliche Beziehungen mit narzisstischen Menschen fühlen sich an wie ein ständiger Wechsel aus Ebbe und Flut – in immer kürzer werdenden Abständen und mit rapide wachsender Intensität. Narzisstische Partner*innen sowie Elternteile setzen Lügen, Intrigen, Willkür und Manipulation bewusst ein. Diese Menschen wissen was sie tun. Sie wissen, wen sie auf welche Art verletzen, manipulieren, kontrollieren können – und wen eben nicht.
Weil Täter*innen nur ausgewählten Personen ihr wahres Gesicht zeigen, stoßen Betroffene oft auch im Umfeld auf Skepsis, sobald sie über die Taten reden. Nicht nur, weil viele Menschen psychische Gewalt nicht erkennen. Täter*innen manipulieren auch Nahestehende durch gezieltes Säen von Misstrauen. Dadurch ziehen sich Betroffene häufig zurück, während sich einstige Bezugspersonen distanzieren (isolation). Viele beginnen zu glauben, sie selbst seien das Problem, und leugnen die Taten vor sich und ihren Mitmenschen.
Zum gängigen Krankheitsbild während und nach dem Missbrauch zählen u. a. Depressionen, PTBS, Suizidgedanken und -versuche, extremer Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Migräne, Gedächtnisstörungen (Pseudo-Dementia), Herzprobleme sowie chronische Schmerzen. Besonders fatal: viele Betroffene erhalten Fehldiagnosen, weil weder sie selbst noch behandelnde Ärzte den Missbrauch erkennen. Psychische Belastung sowie körperliche Schmerzen führen bei Kindern und Jugendlichen oft zu einem drastischen Abfall schulischer Leistungen, bei Erwachsenen wiederum zu Arbeitsunfähigkeit. Man verliert sich selbst in einem Teufelskreis aus freiwilligem Rückzug, unfreiwilliger Isolation, und dem Verlust des beruflichen oder schulischen Umfelds. Letztendlich wird aufgegeben, was einst wichtiger Lebensbestandteil war, sei es Sport, Reisen oder Kunst.
Isolation ist der Grund schlechthin, wieso ein Kontaktabbruch unmöglich scheint. Während alles in sich zusammenbricht, bildet das „da sein“ der missbrauchenden Person eine Konstante. Stets wird Besserung gelobt und für Hoffnung gesorgt (breadcrumbing). Den Opfern wird zeitgleich vermittelt, kein anderer Mensch schätze sie oder werde dies jemals tun („Keiner hält es mit dir aus.“). Da diese zwischenmenschlichen Beziehungen auf Ängsten und Selbstzweifeln beruhen, fällt es insbesondere jungen Betroffenen schwer, sich von narzisstischen Partner*innen oder Verwandten zu distanzieren. Einsamkeit oder in eine finanzielle Notlage zu geraten, erscheinen bedrohlicher und belastender als Doppelmoral und Psychoterror.
„What narcissists do with forgiveness is, they treat it as permission. They don’t change their behaviour.“ – Dr. Ramani Durvasula
Die aktuelle Lage wird viele dieser Szenarien begünstigen. Für Täter*innen wird es leichter, Missbrauchsopfer abzuschotten und zu schikanieren. Sehr wahrscheinlich ist aber auch, dass Täter*innen – aufgrund mangelnder Anerkennung durch andere Sozialkontakte – dem Opfer derzeit besonders viel Aufmerksamkeit schenken. Lasst euch von einer „guten Phase“ nicht blenden. Spätestens nach der Pandemie, wenn sämtliche Quellen der Bestätigung wieder frei zur Verfügung stehen, setzt der ewige Devaluation-Kreislauf wieder ein.
Im Normalfall gibt es nur eine Lösung, um sich aus der Situation zu befreien: no contact. Abstand nehmen und zeitweise bei Freunden oder Familie unterzukommen kann ein erster Schritt sein. Doch was, wenn dies nicht geht? Ein Weg, Konflikte zu vermeiden, ist die Reduzierung von Kommunikation auf das Wesentliche (grey rock).
Tipps und Hilfe bei psychischer Gewalt und Missbrauch
Versucht, auf Provokationen nicht einzugehen. Hinterfragt die Täter*innen: Durch welches Verhalten erbeuten sie Bestätigung oder Aufmerksamkeit? Werdet ihr durch Worte oder Taten kleingehalten? Versucht, die Motivation der Täter*innen zu verstehen – nicht, um die Taten zu rechtfertigen, sondern um sie zu verurteilen. Nehmt eure Gefühle ernst, und richtet euren gedanklichen Fokus auf euch selbst. Es ist nicht euer Schicksal, in einer schmerzhaften Beziehung zu verharren. Es ist okay, langjährigen Partner*innen, Freund*innen, oder Familienmitgliedern den Rücken zu kehren.
Kontaktiert Mitmenschen, seien es Freunde, Bekannte, oder offizielle Anlaufstellen, und sucht euch Hilfe. Die Deutsche Depressionshilfe bietet das iFightDepression-Tool in zahlreichen Sprachen derzeit für alle kostenfrei an. Der englischsprachige YouTube- Channel MedCircle wiederum klärt über alle Facetten des narzisstischen Missbrauchs auf. Bücher der amerikanischen Psychologin Dr. Ramani Durvasula oder der deutschen Gesundheitswissenschaftlerin Christine Merzeder, können helfen, das Gesehene zu verstehen und zu verarbeiten. Unter 0800 116 016 können sich betroffene Frauen rund um die Uhr Rat holen, Jugendliche erhalten Unterstützung unter 0800 1110 333.
Auch Außenstehende sollten hellhöriger werden, Betroffenen ihr Misstrauen gegenüber den Täter*innen offen kommunizieren, und deutlich zeigen, dass sie den Ernst der Lage erkennen. Sucht nach Hilfsangeboten in eurer Region und leitet diese Infos an Missbrauchsopfer weiter. Seid geduldig mit Betroffenen, aber bleibt beharrlich.
In einem Interview mit Oprah Winfrey sprach Stefani Germanotta aka Lady Gaga kürzlich über ihre Missbrauchserfahrungen. „Radical acceptance was key“, sagte die Sängerin – denn erst, wer radikal akzeptiert, dass Missbrauch eine bewusste Entscheidung der Täter*innen ist, kann sich emotional und physisch aus dieser Situation befreien.
Text: Lisa Jureczko
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 15. April 2020 erschienen. Es wurden Änderungen vorgenommen.