Das alte System wackelt – ein neues muss her. Unsere verkorkste Trauerkultur kann dabei ein erschwerender Faktor sein, findet unsere Autorin. Trauern bedeutet, Verluste emotional zu verarbeiten und sich von Menschen, Idealen oder Gewohnheiten zu verabschieden – und das fällt nicht in nicht jedem Gesellschaftssystem leicht.
Als (Welt-) Gesellschaft stehen wir gerade an einer Schwelle. Selten hat die Erde so laut nach Veränderung gebrüllt. Dabei könnte man doch meinen, in Sachen „Emotionen zeigen” habe sich schon einiges getan. Rationalität war gestern, Emotionen sind Trend. In der #filterbubble von Instagram vielleicht, in der Promis Crying-Selfies posten oder heulend ihre „First World Problems“ in Live-Videos teilen. In der Mitte unserer (Leistungs-) Gesellschaft gelten echte Tränen aber immer noch als Indiz für Schwäche und Trauern als Tabuthema. In diesem Text will unsere Autorin das Tabu aus dem Thema nehmen und sich auch die positiven Facetten der Trauerarbeit anschauen. Dabei helfen ihr Kuratorin Brigitte Kölle, die mit ihrer aktuellen Ausstellung „Trauern“ in der Hamburger Kunsthalle etwas an unserer katastrophalen Trauerkultur ändern möchte, und Psychologe Cato Jans, der weiß, wo die Tränen wirklich herkommen.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 26. Juni 2020 veröffentlicht. Die in diesem Text besprochene Ausstellung „Trauern“ fand vom 07. Februar bis 02. August 2020 in der Hamburger Kunsthalle statt.
Aber von vorn: „Zuallererst geht es bei Trauer immer um einen Verlust. Es entsteht ein Gefühl der Leere, etwas fehlt, ist genommen worden und nun klafft ein Loch in der Welt“, erklärt Cato Jans. Und weiter: „In der Trauer spüren wir intensiv, wer oder was uns wichtig war und ist. Wir kommen in Kontakt mit Emotionen, die ein wichtiger Teil von uns sind, und spüren so unsere eigene Lebendigkeit, die wir bejahen und uneingeschränkt leben dürfen.” Der Hamburger Psychologe ist Experte im Umgang mit Trauernden. Zu ihm kommen Menschen in die Praxis, die diesen Giganten unter den Emotionen als unerträglich empfinden und Unterstützung suchen, die sie in ihrem Umfeld nicht finden.
Bloß nicht die Anderen überfordern: Die Tränenquarantäne
Laugh, and the world laughs with you; cry, and you cry alone. Und da haben wir auch schon das erste Problem: Emotionale Zustände wie Trauer werden lange nicht so gerne geteilt wie Partystimmung und Dauer-Euphorie und bleiben meist abgeschottet von der realen Außenwelt hinter den verschlossenen Türen unserer Gesellschaft. Schon bemerkenswert, dass wir uns in Zeiten, in denen wir einander am meisten brauchen, fast schon selbstverständlich in die Tränenquarantäne verdammen. „Es wird quasi erwartet, dass sich die Trauernden zurückziehen und uns nicht überfordern“, beobachtet auch Brigitte Kölle.
Dabei birgt offene Trauer viel Potenzial für ein besseres Miteinander. Mit ein Grund, warum es sich die Hamburger Kunsthalle und Kuratorin Kölle zur Aufgabe gemacht haben, die unterschiedlichen Aspekte von Trauer sichtbar zu machen. Guckt man sich die 30 künstlerischen Positionen aus 15 Ländern an, die in der Ausstellung versammelt sind, merkt man, dass man anderswo auf der Welt weit entfernt ist von Bad Vibes und Kummerisolation. Ein Videowerk zeigt beispielsweise den albanischen Künstler Adrian Paci, der ein professionelles Klageweib („Vajtocja“) anlässlich seines eigens inszenierten Todes engagiert. Klageweiber sind in Osteuropa traditionell etabliert – hier heult man laut und offen und nicht allein im Kreis der Engsten. Die beiden Künstler Ataa Oko und Kudjoe Affutu aus Ghana wiederum führen mit ihren bunten, figürlichen Särgen vor Augen, dass Abschiednehmen auch eine Party sein kann, die wenig mit Traurigkeit zu tun hat. Hier wird nicht der Tod beweint, sondern das vergangene Leben gefeiert.
„Trauer ist ein Zustand der Hilflosigkeit und Passivität und macht nicht selten auch arbeits- und leistungsunfähig. Solch ein unproduktiver Zustand passt nicht in eine Gesellschaft, in der das Funktionierenmüssen ganz oben auf der Werteskala steht.“
– Cato Jans, Psychologe
„Wenn wir bestimmte Menschen verlieren oder wenn uns ein Ort oder eine Gemeinschaft genommen werden, enthüllt die Trauer, die wir durchleben, etwas von dem, was wir sind“, so Brigitte Kölle. Dabei sind wir eben nicht frei von gesellschaftlich vorherrschenden Kontexten. Im Gegenteil: Unser Umgang mit individuellen Verlusterfahrungen ist abhängig von unserem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umfeld. Im Umkehrschluss: Sagt unsere deutsche, steife Trauerkultur etwa über uns, dass wir eine Gesellschaft emotional abgestumpfter Lemminge sind? Weniger drastisch formuliert: Unser Umfeld scheint nicht sehr „trauerfreundlich“. Immerhin kann man überall im Internet lesen, dass anhaltende Trauer ab zwei Wochen bereits als pathologisch eingestuft wird. Und tatsächlich erwarten die meisten Arbeitgeber, dass man nach dem Tod Verwandter ersten Grades nach zwei gesetzlich vereinbarten Sonderurlaubstagen wieder in das normale Berufsleben einsteigt.
„[Das Trauern um Prominente] ist schon fast eine hysterische Form der Trauer. Hier zeigt sich eine Hierarchie der Trauer: Um wen trauern wir und um wen nicht? (…) Bei Menschen, die wir nicht betrauern, empfinden wir keine Empathie.”
– Brigitte Kölle, Kuratorin der Ausstellung „Trauern”
„Das hat viel mit unseren Werten zu tun“, weiß Cato Jans. „Unsere Gesellschaft ist in einem solchen Maße leistungsorientiert, dass viele Menschen jedes Gefühl für den eigenen Wert unabhängig von jeder Leistung verloren haben. Trauer ist ein Zustand der Hilflosigkeit und Passivität und macht nicht selten auch arbeits- und leistungsunfähig. Solch ein unproduktiver Zustand passt nicht in eine Gesellschaft, in der das Funktionierenmüssen ganz oben auf der Werteskala steht.“ Ja, das klingt nach uns. Auch Brigitte Kölle steigt da mit ein: „Unser Lebenslauf ist darauf getrimmt, dass wir kontrolliert und gut funktionieren und immer alles und vor allem uns selbst optimieren. Da sprechen unkontrollierbare Erfahrungen wie Verluste, Tod und das Trauern dagegen.“ Bloß nicht die Kontrolle verlieren. Hauptsache, das Hamsterrad dreht sich möglichst schnell weiter.
Halt mal. Wenn unsere Gesellschaft so wenig Platz für unsere individuelle Trauer bietet, scheint es doch paradox, wie intensiv auf der anderen Seite bekannte Persönlichkeiten beweint werden. Wir erinnern uns an die große mediale Anteilnahme am Tod von Kobe Bryant und seiner Tochter oder an die Blumenmeere für Lady Di damals. Wenn Prominente von uns gehen, scheinen wir plötzlich doch gemeinsam und offen trauern zu können. Brigitte Kölle demonstriert diese kollektive Trauer in der Hamburger Kunsthalle, unter anderem mit Werken von Andy Warhol und Adrian Paci. Sie zeigen Bilder nationaler Verluste und Abschiednahme von John F. Kennedy, Stalin oder Mao. „Das ist schon fast eine hysterische Form der Trauer”, findet sie. „Hier zeigt sich eine Hierarchie der Trauer: Um wen trauern wir und um wen nicht? Letztlich zeigt sich in der Trauer unsere Liebes- und Empathiefähigkeit. Bei Menschen, die wir nicht betrauern, empfinden wir keine Empathie.“
Die Unfähigkeit zu trauern zeigt sich auch in der guten alten Verdrängung. „Wenn wir Trauer nicht zulassen, kommt es entweder zu einer Gefühlstaubheit oder zu einer Art Gefühlsverschiebung: Statt Trauer wird dann oft Wut, Schuld oder Scham empfunden“, so Cato Jans. Dadurch versuchen wir, uns gegen das Gefühl der Ohnmacht zu wehren, und können so zu echten Zerreißproben für uns und andere werden. Auf gesellschaftlicher Ebene wird das dann zur bedrohlichen Schwäche, weiß Brigitte Kölle: „Auch Verdrängung von Trauer endet in mangelnder Empathiefähigkeit, die erhebliche und radikale Folgen in Form von Diskriminierung und Rassismus nach sich ziehen kann.“ Wie sich eine Form kollektiver Verdrängung nach dem Dritten Reich über Generationen auf eine Gesellschaft auswirken kann, bekommen wir momentan leider wieder zu spüren… und genau das muss sich in Zukunft ändern.
How to Trauern
Aber genug erhobener Zeigefinger. Wie werden wir zu guten Trauernden? Zulassen, bloß nicht verdrängen. Denn ein gesunder und wahrhaftiger Umgang mit Trauer kann uns zu empathisch(er)en Menschen machen und letztendlich zu einem besseren Miteinander führen. Trauern ist wichtig, um zu uns selbst zu finden und menschliche Werte zu priorisieren: zum Beispiel Mitgefühl, Verbundenheit, Liebe und Selbstakzeptanz. „Durchs Trauern könnten wir Menschen dem näher kommen, was die Leistungsgesellschaft uns zwar seit Jahrzehnten verspricht, aber nicht ermöglicht: Zufriedenheit“, so Psychologe Jans abschließend. Also: Tut etwas für die Gemeinschaft und – heult doch!
Die Ausstellung „Trauern – Von Verlust und Veränderung” könnt ihr noch bis zum 02. August in der Hamburger Kunsthalle besuchen.
Bilder: Hamburger Kunsthalle. Dieser Beitrag ist zuerst in unserer aktuellen Ausgabe #048 erschienen.
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