Unisex 2.0: Warum die Mode auf Geschlechterrollen verzichten sollte

Die Rollen werden neu verteilt. Wir definieren gerade, was „Geschlecht“ überhaupt für uns bedeutet – könnte also geschlechtslose Mode das nächste große Ding sein?

FOTO:  [SIE] Weste: Vladimir Karaleev, Shirt: Obey, Jeans: Cheap Monday [ER] Pullover: Sample-cm, Uhr: G-Shock, Hose: Julian Zigerli

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[SIe] Kleid: ADPT, Jacke: Levi’s Man Red Tab, Haarschneider: Carrera „No. 662“ [ER] Hoodie: Obey
Bevor Unisexmode überhaupt möglich wurde, mussten Frauen zuerst die Männermode erobern. Mittlerweile ist es ganz selbstverständlich, als Frau im Anzug, Hemd oder in Budapestern auf die Straße zu gehen. Anders­he­rum wird oft noch komisch angeguckt, wer als Mann mit Rock oder Spit­zen­bluse das Haus verlässt. Doch auf den Laufstegen finden sich immer mehr Kleider oder Tuniken für das männliche Geschlecht. Rick Owens, J.W. Anderson oder Damir Doma stecken ihre Male Models regelmäßig in Röcke, Jared Leto kam in die Damenkollektion gehüllt zur Chanel-Show. Doch was kommt nach dem Cross-Dressing, dem Kombinieren der Mode beider Geschlechter?

Unisex 2.0

Unisex, laut Duden „die optische Annäherung der Geschlechter durch Auflösung typischer weiblicher oder männlicher Attribute in der Mode“, wortwörtlich: ein Geschlecht. Der wohl wichtigste De­signer in Sachen Unisex ist der jordanisch-kanadische Designer Rad Hou­rani. Mit seiner geschlechterauflösenden Kleidung gehört er sogar zur Riege der Haute Couture. Ein Jahr lang hat er Frauen und Männer vermessen, bis er ein ein­ziges universelles Schnittmuster hatte, das seitdem die Vorlage für all seine Designs ist. „Ich habe nie verstanden, wer entscheidet, dass ein Mann sich auf eine bestimmte Weise anziehen muss und eine Frau auf eine andere Weise“, sagt Hourani. Seine reduzierte, geometrisch geschnittene Kleidung negiert Geschlecht, Nation, Alter, Saison und sogar Trends. Dabei vereint er aber nicht einfach männliche und weibliche Kleidung. Er erfindet Unisex völlig neu, indem er alle Geschlechtercodes vergisst und etwas vollständig Neues entwirft. Bislang ist solche geschlechtslose Mode eher selten auf der Straße zu finden.

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[SIE] Shirt: Fila, Jacke: Fred Perry [ER] Shirt: Element, Jacke: Vans
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[SIE] Shirt: Fila, Jacke: Fred Perry [ER] Shirt: Element, Jacke: Vans
Und doch sieht man tagtäglich, dass sich Frauen- und Männermode im Alltag einander annähern. Jeans, T-Shirts und Sneaker sind zu den meistgetragenen Kleidungsstücken geworden und unter­schei­den nur in geringen Schnittänderungen, wer gerade drinsteckt. Bereits 1985 de­signte Jean Paul Gaultier eine Kollektion namens „A ­Ward­robe for Two“, für die er Männer und Frauen in Korsetts und Röcken auf den Laufsteg schickte. Und auch heute noch setzt er ein Zeichen, wenn er Conchi­ta Wurst, die Sängerin, die zwischen den Geschlechtern steht, in seiner ­Haute-Couture-Schau mitlaufen oder das Model Andreja Pejic, damals noch Andrej Pejic, im Brautkleid eine Show beenden lässt. Was überhaupt männlich ist und was weiblich, diese Fragen werden immer wieder neu gestellt und neu beantwortet. Heute ist die Erscheinung als Mann oder Frau nicht unbedingt an das biologische Geschlecht gebunden. Es wird immer mehr über die Gleichstellung von Mann und Frau diskutiert, über das Recht, sich sein Geschlecht selbst auszusuchen, und neue, junge Vorbilder wie die Schauspielerin Lily-Rose Depp wollen sich gar nicht erst festlegen, ob sie jetzt homo, hetero oder bi sind. Für Aufsehen sorgte Jaden Smith, Sprössling der Schauspieler Will und Jada Pinkett Smith, als er für die Spring/Summer-2016-Kampagne des Modehauses Louis Vuitton im Rock posierte. Auch zum Prom seiner guten Freundin und „Hunger Games“-Star Amandla Stenberg tauchte er nicht in Hosen auf. Damit steht er als Sinnbild für diese junge Generation, die außerhalb von Kategorien denkt.

Männer gelten noch immer als das starke Geschlecht

Nur gewöhnt man sich bislang an einen Mann im Kleid schlechter als an eine Frau im Anzug. Weil das Männliche leider noch immer als das starke Geschlecht gilt und somit klar scheint, dass Frauen sich mit einer Boy­friend-Hose auf-, sich Männer aber in einem Kleid abwerten würden. Doch die neue Unisexmode schafft eine neue, androgyne Identität – jenseits der Dresscodes, die wir als männlich oder weiblich erkennen. Körperformen verschwinden und der kleine Unterschied zwischen Männlein und Weiblein wird in der Mode Stück für Stück aufgehoben.

2015 eröffnete das Londoner Kaufhaus Selfridges den Pop-up-Shop „Agender“, der sich über mehrere Etagen erstreckte und mit Labels wie Rad Hourani, Ann Demeulemeester oder Gareth Pugh zum non-binären Shopping einlud. Und auch der US-amerikanische Onlineshop thecorner.com beschloss im Juni 2015, dass es Zeit wäre für einen genderneutralen Verkaufsweg als „Alternative zur klassischen Zweiteilung in Mann und Frau“. Selbst in den High-Street-Läden finden sich nun immer öfter Unisex-Kollektionen. Weekday brachte vor einiger Zeit die Linie „S/HE“ heraus, Zara hat erst kürzlich Mode präsentiert, die für beide Geschlechter funktionieren soll. Laut der Modetheoretikerin Barbara Vinken ist es eigentlich der Zweck der Mode, die Geschlechter zu unterscheiden und voneinander abzugrenzen. Doch was, wenn es keine Unterscheidung mehr gibt? Wenn plötzlich nicht nur Männer funktionale Kleidung brauchen und nicht allein Frauen ein Interesse daran haben, schön auszusehen?

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Pullover: By Malene Birger, Hose: Obey, Sneaker: Adidas Originals

 

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Jacke: Vans

Fotos: Laura Kaczmarek
Styling: Heike Held
Hair & make-UP: Anna-Lena Cox
Models: Sie @fsvrinski // Er @toddlerface 

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