Muttersprache – Willkommen bei den Roches

Zum ersten Mal zu zweit auf einem Cover: Bei Charlotte Roche und Tochter Polly ist der Mittelfinger das nonverbale, aber durchaus liebevolle Kommunikationsmittel. Der Sprech der Beiden setzt auf Selbstbestimmung und Ehrlichkeit.


Pullover von TSE Cashmere, Slips von Sloggi

Charlotte Roche ist kein Muttertier. Sie ist ein Mutterfabelwesen. Jedenfalls fantasiert man sich schnell in bunte, fabelhafte Familienszenen, wenn Charlotte, 41, und Polly, 16, von ihrer Beziehung erzählen. „Pollinski“, „Pollilolly“ und „Polderanzie“ fallen als Spitznamen. Polly nennt die Mama am liebsten „Mamamann“ – das ist einer ihrer Running Gags, so zu tun, als wäre Charlotte ein Mann. „Charles“ wäre langweilig. Und langweilig ist nicht bei den Roches: Durch „Paardiologie“, der Podcast mit Ehemann Martin, hat sich die Autorin und Moderatorin einmal mehr zur Galionsfigur für schonungslose Ehrlichkeit und soziale Gerechtigkeit gemacht.

Liegen Aktivismus und „Anpacken” in den Roche’schen Genen?

Es ist der richtige Zeitpunkt fürs Roches Comeback, denn wir alle wissen, es gibt viel zu tun – so viele Themen, die wir anpacken müssen, um als Menschen nicht kollektiv verkackt zu haben. Und die Charlotte Roche ist eine, die krempelt die Ärmel hoch und greift öffentlich in die Scheiße. Vielleicht liegt es in der DNA, denn während Polly Kreuze in den Kalender streicht, bis sie die Schule nächsten Mai abschließt und mit dem Erwachsenwerden klarkommen muss, überlegt auch sie sich, wie sie ihre Zukunft und ihre neue Öffentlichkeit nutzen kann, um die Welt zu verbessern. Gedanken kreisen um Netzaktivismus und das Freiwillige Soziale Jahr nach der Schule.


(Charlotte) Mantel von Drykorn, Longsleeve von Patrizia Pepe, Strumpfhose von Falke, Schuhe von Scotch & Soda; (Polly) Kleid von Talbot Runhof, Ohrring von Vibe Harsløf, Schuhe von Scotch & Soda

Double trouble means double power: Im Juni postet Polly auf ihrem damals noch überschaubaren Insta-Kanal @pollyrroche zum ersten Mal ein gemeinsames Bild mit „Mamamann“. „Danke, dass du mich erträgst. Du bist alles, was ich anstrebe. Ich liebe dich“, so die Caption. Sie entscheidet sich für die Öffentlichkeit, jetzt ist sie also alt genug. Ein Modelvertrag folgt, Follower folgen (heute sind’s über 12k) und schnell wird deutlich, dass auch Polly Roche was zu sagen hat. Und dass sie eine junge Erwachsene ist, ernst zu nehmend, eigenständig und eigensinnig.

„Wir sind ein Haushalt von drei Leuten und zwei davon sagen mir zehnmal am Tag: ,Halt die Fresse!’”

„Es kam der Punkt, an dem ich lernen musste, einfach mal die Fresse zu halten. Wenn ich manchmal noch versuche, Polly zu erziehen, dann bekomme ich sofort von ihr und von Martin gesagt, dass alles, was noch nicht erzogen sei, jetzt zu spät sei und die eh ganz toll und fertig. Dass ich mich daran gewöhnen müsse, dass sie jetzt erwachsen ist und ich sie in Ruhe lassen soll“, erzählt Charlotte. „Wir sind ein Haushalt von drei Leuten und zwei davon sagen mir zehnmal am Tag: ‚Halt die Fresse!‘“


(Charlotte) BH von Sloggi, Ohrringe von Jane Kønig, Kette: Lena Shop, (Polly) BH von Sloggi, Ohrringe von Jane Kønig

Liebespöbeln ist das. Dazu zählt auch der Mittelfinger als Mutter-Tochter-Code. „Das ist ein Symbol dafür, dass ich nicht reden will. Zum Beispiel nach der Schule, da bin ich echt kurz eine andere Person, weil ich so gestresst bin. Wenn Mama dann in mein Zimmer kommt, zeige ich ihr den Mittelfinger und sie geht rückwärts wieder raus. Das ist nicht böse gemeint, sondern klare Kommunikation“, erklärt Polly.

Auf Mittelfinger und ,Halt die Fresse‘ folgen Wärmegeben und Sicherheit

„Unsere Kommunikation hat sich verändert: Ich kann nur da sein für sie, aber meistens kommt Polly nicht mehr zu mir. Und dann kann ich nur diese ganz kleinen Fenster abpassen, wenn sie noch Hilfe braucht oder Geborgenheit. Und sonst tagelang Mittelfinger und ‚Halt die Fresse‘ und dann ist mal ganz kurz Umarmen und Wieder-da-Sein angesagt, Wärmegeben und Sicherheit“, sagt Charlotte. Kleiner Flashback in den eigenen Abnabelungsprozess: Wer kennt den aufregenden, aber auch ätzenden Transit-Zustand als Teenager nicht mehr? Und trotzdem wirken die Roches auch dabei wieder eine Spur cooler als andere.

„Wenn Mama eben einen Bungee-Stunt mit Titanbolzen unter der Haut machen will, dann ist das. Das wäre nicht mein Place zu sagen: ,Mach das nicht‘. Ich muss meine Mutter nicht beschützen.”

„Wir können zwar über alles reden, aber müssen es auch nicht. Und viel wichtiger: Wir reden uns nicht rein“, sagt Polly. Hätte sie zum Beispiel etwas gegen Charlottes Aktion des Wahnsinns beim „Duell um die Welt“ gehabt, hätte sie ihre Mutter auch nicht davon abgehalten. Abgesehen davon, dass das wahrscheinlich auch nicht menschenmöglich ist. Wenn Mama eben einen Bungee-Stunt mit Titanbolzen unter der Haut machen will, dann ist das so. „Das wäre nicht mein Place zu sagen: ‚Mach das nicht.‘ Ich muss meine Mutter nicht beschützen“, erklärt Polly.


Links: Anzug von Escada, BH von Sloggi, Brille von Mykita, Ohrringe und Kette von Jane Kønig; Rechts: Zweiteiler von Brøgger, BH von Sloggi, Ohrringe von Jane Kønig


Hemd von Stieglitz, Brille von Mykita x Maison Margiela, Ohrringe und Kette von Jane Kønig

Bei aller Coolness ist die Rollenverteilung aber klar. Das Klischee der Mutter als beste Freundin fällt in unserem Gespräch nicht. „Wir versuchen, die Erwachsenenrolle zu behalten, sodass sich das Kind keine Gedanken oder Sorgen um uns machen muss. Wenn das mal in Anflügen kommt, dann würde ich sagen: ,Das ist nicht dein Problem. Leb dein Leben und wir sind für dich da“, lautet Charlottes Devise.

Bei aller Coolness dieser Familie ist die Rollenverteilung aber klar. Das Klischee der Mutter als beste Freundin fällt in unserem Gespräch nicht. „Wir versuchen, die Erwachsenenrolle zu behalten, sodass sich Polly keine Sorgen um uns machen muss”, lautet Charlottes Devise.

Auch bei unserem Shooting in einer Hamburger Altbauwohnung in St. Pauli sind die beiden in ihren Rollen: Es ist Pollys erstes Editorial-Shooting, ihre Mutter aber kommuniziert seit 20 Jahren mit Kameras. Charlotte redet ihr nicht rein, aber ist für ihre Tochter da, wenn sie das will. Sie kuscheln, sie feixen, sie verdrehen die Augen, sie lachen. Es ist eine erfrischende Mutter-Tochter-Kombination, denn sie lassen sich und ihre Momente sein.

Von Vetorechten an Mamas Outfit – und Verleihregeln

„Es gibt eine Regel: Meine Mama darf nichts zu meinen Klamotten sagen. Egal was ich anziehen möchte, es gibt keine Sätze wie: ‚Wie siehst du denn aus? So gehst du mir nicht aus dem Haus!‘“, sagt Polly. Kleidung sei Ausdrucksform, Selbstverwirklichung, erklärt Charlotte darauf. Aber auch, dass Polly durchaus ein Vetorecht habe für Mamas Outfits, wenn es ihr wirklich um was ginge. „Ich weiß, wie das ist, wenn man sich schämt für seine Mutter und sich blamiert fühlt, und deswegen darf mich Polly tatsächlich verkleiden als dunkelblau angezogene Business-Lady mit Perlen-Ohrringen, wenn ihr das lieber ist als die Michael-Jordan-Schlappen und das Michael-Jordan-Stretch-Kleid vom Strand. Da habe ich tiefes Verständnis für die Polly.“


(Charlotte) Zweiteiler von Stieglitz, Ohrringe von Jane Kønig; (Polly) Wickelkleid von Stine Goya, Blazer von Broøgger, Slip von Sloggi, Ohrringe von Jane Kønig

(Polly) Mantel von Stine Goya, Hose von Brøgger, Longsleeve von Wolford, Schuhe von Flattered; (Charlotte) Anzug von Patrizia Pepe, Ohrringe von Jane Kønig

Oft kommt das aber wohl nicht vor, denn die junge Erwachsene „leiht“ sogar gern mal was aus dem Kleiderschrank der Mutter. Sie witzeln um die Drei-Tages-Regel: Wenn etwas, das dir nicht gehört, länger als drei Tage in deinem Schrank ist, dann gehört es dir. „Ich versuche, der Polly beizubringen, dass Leihen ohne Fragen Klauen ist. Ich will nicht beklaut werden, deshalb klaue ich nicht – und zieh nichts von der Polly an. Aber andersrum klappt das nicht“, sagt Charlotte. Böse ist sie ihr aber auch nicht, denn in Wirklichkeit ist es doch ein großes Kompliment, wenn die 25 Jahre jüngere Tochter die Klamotten feiert.

Beim Shooting redet Charlotte Polly nicht rein, aber ist für ihre Tochter da, wenn sie das will. Sie kuscheln, sie feixen, sie verdrehen die Augen, sie lachen. Es ist eine erfrischende Mutter-Tochter-Kombination, denn sie lassen sich und ihre Momente sein.

Apropos Langfinger – ein cheesy Übergang darf erlaubt sein: Nicht nur der Stinkefinger ist symbolträchtig. Der kleine Finger hat bei den Roche-Frauen ebenfalls eine große Bedeutung. Polly streckt Charlotte den hin, ohne hinzuschauen, wenn sie nach einem Streit bereit ist, sich zu vertragen. „Ich als Mama will mich nach einem Streit schneller vertragen, aber Polly kann richtig lang sauer auf mich sein. Ich komm dann so viermal in ihr Zimmer und hole mir eine Abfuhr ab und beim fünften Mal streckt sie mir vielleicht den kleinen Finger hin.“ Den Zwang, sich zu vertragen, gibt es in der Familie nicht, aber wenn Polly es dann fühlt und die Wut verflogen ist, tippt Charlotte zurück.

Kleiner Finger, ja – Verniedlichung? Auf keinen Fall

Klingt nach einer süßen Dynamik, was? Aber sag einer Charlotte Roche bloß nicht, dass sie niedlich ist. „Ich bin ja jetzt größer als die Mama und dann schau ich auf sie runter und sag oft: ,Mama, du bist so süß und so klein und so niedlich.‘ Und dann sagt Mama immer: ,Ich bin böse, hässlich und alt. Wiederhole das!‘ Und dann lachen wir uns tot“, erzählt Polly noch. Und auch, dass sie immer Fragezeichen lachen muss, wenn ihre Mutter ihr random irgendwelche Emojis auf Fragen antwortet. Auf eine Frage zur Wäsche kann dann einfach unvermittelt mal nur ein Igel zurückkommen. Oder gleich eine Reihe von zusammenhangslosen Tier-Symbolen. Sagen wir doch: Sie ist ein Mutterfabelwesen.


Links: (Polly) Zweiteiler von Brøgger, BH von Sloggi, Ohrringe von Jane Kønig; Rechts: (Charlotte) Rock von Etro, BH von Sloggi, Halskrause von Brøgger, Ohrringe von Jane Kønig

>>> HIER geht’s zur ganzen Printausgabe mit Charlotte und Polly <<<

Fotos: Ansgar Sollmann
Styling: Nina Petters
Haare & Make-Up: Marco Alecci @ Ballsaal using Sisley Paris & Davines
Produktion: Jenny Weser
Produktions-Assistenz: Martyna Rieck
Foto-Assistenz: Jakob Riedel
Location: Katharina Stoltze und Linus Lang

 

Written By
Mehr von Edith Loehle

In Namen meiner Schwester: Lina al-Hathloul spricht für Aktivistin Loujain

Sie ist Sprachrohr für Frauenrechte, aber darf nicht sprechen: Loujain al-Hathloul ist...
Read More