Cry, baby! Warum ich es vermisse, zu weinen

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Als Kind hat unser Autor viel geweint, seit Jahren aber fließen bei ihm keine Tränen mehr. Warum er sich die großen Schluchzer zurückwünscht, hat er hier aufgeschrieben.

Ich weiß noch ungefähr, wie es sich anfühlt, das Weinen. Viele kennen das als Teil ihres allgemeinen Gefühlsrepertoires: Ein Brennen in den Augen; Wellen, die innerlich emporsteigen. Ja, Wellen hören sich richtig kitschig an, aber sie beschreiben nun mal gut, wie es sich für mich anfühlte, aus Trauer oder Wut zu weinen. Wie sie sich aufbäumten und kaum zurückzuhalten waren. Sie stiegen von irgendwo aus der Magengegend empor, schäumten über und erreichten meine Brust, dort wurde es kalt. Eine Synapse weiter kenterte mein inneres Boot und es lief mir aus den Augen, die Wellen waren im Kopf angekommen, die Tränen flossen warm. Aber – um diese Metapher vollends auszureizen – dort, wo bei anderen noch immer regelmäßig hoher Seegang herrscht, ist bei mir schon lange Windstille. Und ich vermisse sie, meine tränenden Wellen.

Die Heul-Vorlagen hätt’s gegeben

Das letzte Mal vor Trauer „groß” geweint habe ich vor ungefähr einem Jahr, als eine romantische Beziehung für ein paar Monate zu Ende ging. Damals fühlte sich das final an. Ich weinte reale und auch nicht wenige Tränen, aber nicht so wie früher, als ich ein Kind war. Damals habe ich viel geweint. Nicht bei jeder Kleinigkeit, aber eben immer dann, wenn mich die Emotionen unkontrolliert überkamen: Aus Wut, Verzweiflung, aus Angst, vielleicht auch aus Trauer. Bei Filmen weinte ich allerdings selten bis nie. Emotionale Lieder? Diese Tränen kann ich an einer Hand abzählen. Aus Freude oder Rührung habe ich auch noch nie geweint. Zurück also zu Wut und Trauer: Momente, in denen ich aus diesen Gründen hätte heulen können, gab es natürlich seitdem viele. Meine Eltern haben sich scheiden lassen; meine Welt stand Kopf, aber die Augen blieben oft trocken. In diesem Jahr starb dann meine Oma, zu der ich eine sehr enge Verbindung hatte. Auf ihrer Beerdigung tränte ich ein kleines bisschen, aber hauptsächlich, weil es mir schwerfiel, meinen Vater und seine Geschwister so traurig zu sehen. Eltern-Kind-Beziehungen sind vermutlich noch mein größter Trigger, wenn es um den Heul-Flow geht. Aber seit Jahren bleiben meine Augen ein leerer Tank.

„Mir ist völlig bewusst, dass (…) uns unsere Sozialisierung und der Einfluss von Medien Druck machen, auf eine bestimmte Art und Weise und nach einem ungeschriebenen gesellschaftlichen Kodex reagieren zu müssen. Bei einer Beerdigung hast du zu heulen, ach was, bei allen großen Momenten in deinem Menschenleben.”

„Jede*r geht anders damit um”

Versteht mich nicht falsch: Mir ist völlig bewusst, dass viele der oben genannten Situationen solche sind, in denen uns unsere Sozialisierung und der Einfluss von Medien Druck machen, auf eine bestimmte Art und Weise und nach einem ungeschriebenen gesellschaftlichen Kodex reagieren zu müssen. Bei einer Beerdigung hast du zu heulen, ach was, bei allen großen Momenten in deinem Menschenleben. Bei Kleinkind-Videos und emotionalen Filmszenen auch. Und wenn dich bei einer Musik-Ballade die Fluten nicht ergreifen, dann kannst du nur abgestumpft sein! Das sind natürlich zugespitzte Imperative, aber während ein zwischenmenschlicher Kodex hierzulande zwar oft fordert, dass wir Emotionen unterdrücken, so will er gleichzeitig, dass wir dann an ganz bestimmter Stelle weinen.

„Ich vermisse das befreiende Gefühl, das ein Tränenmeer bekanntlich auslösen kann. Ich lechze nach dem Moment, in dem die Tränen trocknen, die Wellen und Wogen sich wieder glätten (…) und danach ein langer, freier Atemzug kommt.”

Mir ist bewusst, dass es auch anders geht. Dass zum Beispiel beim Tod oder in einer Gefahrensituation für jeden Menschen die individuelle, natürliche Reaktion die einzig richtige sein kann. Als mein Vater vor Jahren den Krebs überlebte, habe ich keine einzige Träne vergossen. Ich weiß, dass ich mich dafür nicht schämen muss. Und mir ist klar, dass internationale Kulturen ganz unterschiedlich mit Weinen, Tränen und Emotionen wie Trauer umgehen. In all diesen Gewissheiten aber liegt meine Verzweiflung nicht. Ebenso wenig glaube ich, dass meine Heul-Flaute etwas mit toxischer Männlichkeit zu tun hat. Diese habe ich wie jeder andere cis Mann zwar verinnerlicht; ich durfte aber so frei unter feministisch-femininem Einfluss aufwachsen, dass ich meine Tränen fließen lassen würde, wenn ich denn könnte.

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Befreiende Gefühle: Wenn sich die Wogen glätten

Am meisten störe ich mich selbst an meinem Tränenmangel. Vor allem, weil ich eben weiß, dass es mal anders war. Side-Note: Auch, wenn ich heute glaube, dass mich soziale Erwartungen nicht allzu stark beeinflussen, so habe ich sie mir dank Medien und Umfeld doch groß vorgestellt, die dramatischen Cry-Momente auf Beerdigungen, bei Trennungen, in Streits oder Gefahrensituationen. Wenigstens bei solchen Gelegenheiten richtig Heulen hätte seit meiner Kindheit doch drin sein müssen, denke ich mir. Vielleicht sind diese Gedanken auf meinem grundsätzlichen Hang zu Emotionalität und Dramatik zurückzuführen, den ich besonders in meiner Kindheit hatte. Diese Dramatik vermisse ich nicht und habe sie seitdem an vielen Stellen durch Rationalität und gedankliche Analysen ersetzt. Aber ich vermisse das befreiende Gefühl, das ein Tränenmeer bekanntlich auslösen kann. Ich lechze nach dem Moment, in dem die Tränen trocknen, die Wellen und Wogen sich wieder glätten (can’t stop with the Metapher!) und danach ein langer, freier Atemzug kommt. Egal, wie beschissen die Situation war: Meistens habe ich mich nach dem Heulen wirklich besser gefühlt. Ganz banal. Vielleicht auch, weil ich manchmal gar nicht wusste, warum ich weine. Vielleicht, weil mein Kopf heute voll von so vielen rationalen Gedanken ist, dass ich die Wellen brauche, die in einer Flut des Irrationalen alles Sinnvolle wegwaschen. Um diese Wellen beneide ich meine Mitmenschen, die regelmäßig weinen, kolossal.

Ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin. Von Menschen, die Antidepressiva genommen haben, habe ich ähnliche Beschwerden gehört. Ich bin zwar in therapeutischer Behandlung, aber nehme (noch) keine solchen Medikamente. Noch habe ich keine abschließende Erklärung dafür, warum ich nicht mehr wirklich weinen kann. Vielleicht ist es ganz simpel und ich unterdrücke mehr Emotionen, als ich mir eingestehen kann. Eventuell habe ich Angst vor dem Weinen – Angst davor, zu sehr die Kontrolle über meine Gefühle zu verlieren und unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu blicken, wegen derer das Weinen vielleicht nie wieder aufhört. Vielleicht habe ich mich für diese Lebensphase erst einmal ausgeweint. Oder ich habe nicht mitbekommen, dass ich zum People-Pleaser geworden bin, mich zu sehr an andere Menschen hänge, oder mich von ihren Tränen erdrückt fühle, statt selbst zu weinen. Vielleicht bin ich so abgestumpft, dass ich es verlernt habe, zu weinen. Ich hoffe nicht.

Tränen der Hoffnung

Stattdessen hoffe ich, irgendwann wieder Tränen vergießen zu können. Dass sich Lesley Gores Motto „It’s my party and I cry if I want to” für mich bewahrheitet. Natürlich wünsche ich mir keinen der klischeehaften Gründe, aus denen man Weinen müsste, sollte, könnte. Ich nehme auch Freudentränen! Ich bin offen für Tipps, wenn jemand weiß, was ich selbst für meinen Tränenfluss tun kann. Gleichzeitig will ich keine großen Erwartungen an mich stellen und mir verzeihen, dass und wenn ich nicht weinen kann. Ich will’s auf keinen Fall faken. Ich will zu den Emotionen finden, die mir mehr erlauben, als traurig oder wütend dreinzublicken, wenn ich stattdessen schluchzen könnte. Am Ende weiß ich doch, dass ich damit umgehen könnte. Oder, wie es in meinem liebsten Song von Amy Winehouse heißt: „In this blue shade, my tears dry on their own.”

Euch ist nun erst recht zum Heulen zumute? Dann lest diese Beiträge: 

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