Wer bin ich und wo – und wie schaffe ich mir meinen eigenen Space? Die Antworten auf diese Fragen hat UK-Star Shygirl – und sie sind alles andere als schüchtern: Ab jetzt navigiert uns genau diese Künstlerin durch Raum und Zeit. Wie, verrät sie in unserer ersten digital-only Coverstory.
Wer auf den letzten Metern von 2020 noch über Meta-Themen wie Zeit, Raum und das Universum sprechen will, kann sich schnell verlieren. Noch nie war es zugleich so wichtig und so verdammt egal, wann und wo wir gerade sind. Die einen haben sich in diesem Jahr an definitive Sicherheiten geklammert, andere haben sich endgültig losgesagt. Dazwischen liegen Menschen wie die Londoner Künstlerin Blaine Muise, besser bekannt als Shygirl. Die 27-Jährige verkörpert eine Art personifiziertes Raum-Zeit-Kontinuum von den 90er-Jahren bis in die Zukunft und ist doch mit dem Hier und Jetzt so verknüpft wie kaum Kolleg*innen. Sie ist eine, die sich von Szene-Klischees lossagt und deren Präsenz trotzdem Posterwände in Shoreditch füllt – sie ist Begründerin für neue Spaces von Londoner Musik. Vor kurzem las sie passend dazu den Roman „Der Wüstenplanet“, das selbsternannte „größte Zukunftsepos aller Zeiten” von Frank Herbert, das auf einem externen Wüstenplaneten spielt. Shygirl reflektiert, wie und wo sie ihre Zeit verbringt, physisch wie psychisch. Mit ihr muss man also über Spaces jeglicher Art sprechen, und darüber, wie man Zeit nutzt. Spoiler: Sie wird für Spontaneität plädieren.
Von Grime-Grenzgänger*innen und Fashion-Feuilleton
Der Londoner Lockdown fand für Shygirl zum Teil auf der Couch statt, in Gaming-Marathons zwischen Combat und Autorennen. „Es war tatsächlich ganz cool, ein wenig ,wholesome‘ zu sein, Dinge mit meiner kleinen Schwester zu unternehmen und das auszubalancieren, worüber ich sonst schreibe”, sagt sie hörbar entspannt am Telefon. Auf den ersten Blick mag sich diese Agenda nicht von einer oft proklamierten Quarantäne-Monotonie abgrenzen. Aber das, „worüber sie sonst schreibt” hebt Shygirl genau von jener ab.
Die Wenigsten werden den Lockdown und die vier vorangegangenen Jahre dafür genutzt haben, eine Karriere zu etablieren, der Buzzwords wie „einzigartig“ und „progressiv” peinlich wenig gerecht werden. Nach Jobs in der Modebranche – Shygirl war Foto- und Casting-Assistentin bei einer Model-Agentur – schafft sie sich 2016 ihr musikalisches Standbein. Ja, eine 2000er-Ästhetik ist schnell attestiert, ja, der Sound ist von düsterer Nostalgie inspiriert. Damit ist die Rapperin gegenwärtig, trifft mit nonchalant gespitteten Songs wie „UCKERS” und „BB” den Ton eines undefinierbaren Stoizismus und passt in einen Mix, den sich sowohl Grime-Grenzgänger*innen als auch Fashion-Feuilleton erträumen. An Klischees aber gleitet Shygirl so schnell vorbei wie der Latex auf den Visuals zu „ALIAS”, ihrer neuen EP, die im November erschienen ist.
Vier mal B-Name, vier mal Shygirl: Die Shy Bbz
Für diejenigen, die Shygirl auch in all diesen Beschreibungen noch nicht greifen oder verstehen konnten, liefert die Künstlerin mit jener EP ein wenig Orientierung. Für die Promotion der sieben Songs inszeniert sie sich in vier Charakteren, den „Shy Bbz”. Sie sollen vier ihrer Persönlichkeitszüge widerspiegeln und dienen als Bild von Shygirls Status Quo in Raum und Zeit. Ihre Namen sind Bovine, Bonk, Baddie und Bae. In vier verschiedenen Kreationen tauchen sie in Shygirls physischen Looks auf, tanzen sich dem Social Distancing gerecht aber auch als digitaler Crossover zwischen Spielzeug- und Animationsfigur durch ihre Musikvideos. „[Der Name] Bovine gefiel mir direkt, weil ich mich fühlte, als würde ich einen Teen-Coming-Of-Age Roman lesen”, erklärt Shy eine der Figuren. Jede einzelne hat sie mit einer kleinen Biografie versehen, von Charaktereigenschaften bis hin zum Sternzeichen. „Bovine ist das bitchy, spießige Girl mit einem hässlichen Namen, aber sie ist trotzdem ,bad’.” Bonk, den bunten Look unseres digitalen Covers, beschreibt Shy nur kurz: „Sie ist irgendwie verrückt, nicht total, aber sie hat einfach einen komischen Namen.”
„Dieses Konzept, in dem wir verschiedene Seiten zeigen, mehr sein können…die Grenzenlosigkeit von uns selbst fasziniert mich. Ich bin ungern zu deskriptiv.”
„Sie ist das bitchy, spießige Girl mit hässlichem Namen, aber sie ist bad” – Shygirl über ihre Figur Bovine.
Und wenn sie schon den vier Seiten ihres Selbst Namen gibt, müsse es humorvoll bleiben, sagt Shy – wie mit Zuckerguss, sonst nähme das Konzept schnell narzisstische oder prätentiöse Züge an. Außerdem seien die Shy Bbz lediglich eine Sicht ihrer Selbst und frei für die Interpretation von Fans. Sie selbst kennt noch nicht die ganze Geschichte. „Das ist das Interessante am Konzept eines „Alias“ – es gibt keinen ultimativen Moment in dem du komplett und die ganze Zeit du selbst bist. Du wechselst ja nicht den Körper. Dieses Konzept, in dem wir verschiedene Seiten zeigen, mehr sein können…die Grenzenlosigkeit von uns selbst fasziniert mich.” Shy liebt es, wenn Fans etwas selbst entdecken können: „Ich bin ungern zu deskriptiv.”
Der Club trifft den Ton
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Es sei denn, es geht um die Looks. Visuell gibt Shygirl seit jeher ihren Ton an und hat sich erst mit „ALIAS” darauf eingelassen, das Ruder aus der Hand zu geben – auch wenn sie die Tour-Poster lieber noch selbst am PC designt. Ihre Shy Bbz tragen die Designs befreundeter Modedesigner*innen und schlagen die Brücke zwischen Shys jetziger Karriere und jener in der Modewelt. Nach ihrem Ausstieg aus der Casting-Agentur veröffentlicht Shy ihre erste EP „Cruel Practice” und gründet mit ihren Kolleg*innen und Freund*innen Sega Bodega und Coucou Chloe das Indie-Label „NUXXE”. Spätestens seitdem ist sie feste Größe in Clubs und Industrial-Bass-Playlisten von Streamingportalen: „Lyrikerin und DJ mit einem klar im Club platzierten Tonfall“, lautet dort ihre Selbstbeschreibung.
Das Side-Eye gibt Shygirl in der Figur als Baddie.
Und weil es in Shygirls Club-Songs einen düsteren und morbiden Humor gibt, den sie selbst vielleicht als „irgendwie britisch” bezeichnen würde, müssen wir im Gespräch über Zeit und Raum wenigstens einem Klischee folgen und über Londoner Clubs sprechen. Heute kennt Shy sie von der Bühne aus, früher war ihr Partyleben Teil des Mode-Jobs, gibt sie zu und lacht. „Ich ging nur zu einer weiteren großen Party, die zwar keine klassische Mode-Party war, aber dorthin kamen alle, die irgendwie in der Mode arbeiteten – damit meine ich die „normalen” Hustlers, die weniger prätentiösen Menschen. Bei den anderen Partys haben meine Freunde und ich uns den Ort zu Eigen gemacht. Ja, solche Mode-Partys kommen mit Schwierigkeiten und ja, es sind vielleicht nicht immer die beste Art von Menschen dort, aber deine Freunde und du seid dann in der Mehrzahl. Es hat sich angefühlt wie ein ,Takeover’.”
„[Spontaneität] ist die wahre Geheimzutat zum Glücklichsein. Im Lockdown vorsichtig damit umzugehen, was man macht oder nicht, lässt nicht wirklich viel Raum dafür. Ich kann es nicht erwarten, sie wieder zurückzubekommen.”
Sich den eigenen Space schaffen, auf das eigene Zeitgefühl hören, das praktiziert Shy längst über die Grenzen von Fashion-Partys hinaus. Noch vor dem Lockdown verbrachte sie drei Monate bei ihren Großeltern in der Karibik und kehrte mit Meta-Themen im Kopf zurück. Selbsterkenntnis, Entschleunigung, Evaluation des Lebens: Stereotype geläuterter Reiserückkehrer parieren eigentlich nicht mit der Coolness einer Shygirl. Sie sind trotzdem die Antithese zu dem, was die Künstlerin in der Südlondoner Heimat umgibt: „Es gibt in London diese crazy Ego-Art, in der jede*r denkt, dass sich die ganze Welt nur um die Stadt dreht und das die einzige Art zu leben ist. Ist es nicht! Mir hat die Zeit [in der Karibik] geholfen, mir Entscheidungen genauer anzusehen und zu sagen: ,Hm, das will ich nicht machen’.”
Definitiv der „Freak” unter den Shy Bbz: Shygirl ist als Bonk unser Coverstar.
Zu diesen Entscheidungen gehören auch jene, die die Kreation des eigenen Umfelds auf den Online-Space zu erweitern. Als zu Beginn des Lockdowns Video-Sets, Akustik-Performances und Zoom-Partys aus dem Boden schießen, entscheidet Shy sich dagegen, auf den virtuellen Zug aufzuspringen. „Ich dachte mir: ,Das ist so lame! Ich hasse Zoom Sets, ich halt’s nicht aus.’ Ich liebe es, im Club anonym zu sein. Ich will nicht allein in meinem Zimmer sitzen und Musik hören. Und ich mache lieber gar nichts als nur die halbe Version von etwas.” In einem vergangenen Interview sprach Shy davon, selbst mit ihren Shows Fantasien schaffen zu wollen. Wäre das aber nicht viel leichter im virtuellen Raum – ohne zeitliche, technische und örtliche Beschränkung, mit Avataren wie den Shy Bbz? Nein. Was dort fehlt, sei die Spontaneität, meint Shy. „Sie ist die wahre Geheimzutat zum Glücklichsein. Im Lockdown vorsichtig damit umzugehen, was man macht oder nicht, lässt nicht wirklich viel Raum dafür. Ich kann es nicht erwarten, die wieder zurückzubekommen.”
„Ich blockiere Menschen nicht, um sie zu bestrafen, sondern weil ich den Stuff nicht sehen will. Danach ist es schnell aus dem Auge, aus dem Sinn. Es ist ein bisschen so, wie wenn man einen Notfalleinsatz sieht und die Eltern einem sagen, dass man wegschauen soll.”
So sehr sie aber für Spontaneität und fluide Momentaufnahmen plädiert, so sehr besteht Shy trotzdem weiter darauf, ihren eigenen Online-Space passgenau zu kuratieren. Viele Storys berufen sich auf ihre vermeintliche No-Fucks-Attitüde, einen Geduldsfaden, der schon in Shygirls Twitter- oder Insta-Bio zu enden scheint. Sie habe keine Zeit für „nicht-heiße” Menschen, keine Geduld für solche, denen sie gefallen soll, keinen Bedarf für die Reviews weißer heterosexueller Cis-Männer über ihre Kunst, lauten hier Statements und Devisen. Und auch in unserem Gespräch bestätigt Shy, dass sie kein Interesse daran habe, sich für Menschen mit grundverschiedenen Prinzipien spannend zu machen. In der Praxis folgt für jene gerne mal ein schnelles Blocking auf Social Media: „Ich bin definitiv offen für Kritik, aber wenn was du sagst nur darauf ausgerichtet bist, Schaden oder Schmerz auszulösen, warum sollte man dafür offen bleiben?”
Soft, aber nicht weniger bad: Shygirl als Bae.
Wer also gegen Shys grundsätzliche Positionen zu Rassismus, Homophobie, Feminismus oder anderen unstreitbaren Themen verstößt, fliegt raus – und ist danach schnell vergessen. „Ich blockiere Menschen nicht, um sie zu bestrafen, sondern weil ich den Stuff nicht sehen will. Danach ist es schnell aus dem Auge, aus dem Sinn. Es ist ein bisschen so, wie wenn man einen Notfalleinsatz sieht und die Eltern einem sagen, dass man wegschauen soll. Das alles ist natürlich eine sehr leichte Option und im Persönlichen weniger einfach.” In ihrem eigenen Raum- und Zeitgefühl reagiert Shygirl instinktiv, egal ob on- oder offline. „Ich bin bin eine reale Person und immer wenn ich das Gefühl habe, dass diese Realness diskreditiert oder an die Seite geschoben wird, sage ich meine Meinung. Ich reagiere nicht auf alles, man muss mich nicht mögen. Das mag ich an so ziemlich all meinen Freundschaften: Ich bin aggressiv, aber auch lustig… Ich kann ziemlich ,dismissive’ sein und meine Freunde ermahnen mich dann für bestimmte Sachen. Aber das ist okay, ich kann’s aushalten. Ich werde mich nicht entschuldigen, ich bin dann einfach in einer Mood, und das ist menschlich.”
Sympathie widerspricht keiner Provokation
Shygirls Worte sind ein Manifesto von Selbstbewusstsein, die das aalglatte Bild einer Künstlerin abgeben könnten, die Äußeres an sich vorbeigleiten lässt wie die Lyrics ihres passend betitelten Songs „Slime”. Eine, für die Sympathie an letzter Stelle steht. Das Gegenteil aber ist der Fall, wenn Shygirl den Hörer abnimmt. Welche Tropes und Stereotype auch immer in ihre Kategorisierung als übercoolen Londoner Underground-Hit einzahlen, mit einem ihrer vielen Lacher und druckfertigen Zitaten radiert Shygirl sie nach wenigen Minuten aus. Sie gäbe lieber Telefoninterviews als E-Mails zu schreiben, sagt sie, weil sie selbst wisse, dass sie darin manchmal kalt rüberkomme. „Es ist nicht so, als hätte ich zwei verschiedene Seiten. Online ist ein Monolog, du sprichst in den Äther. Offline ist der Alltag. Du bist formbarer, arbeitest um Leute herum, reagierst. Beide beeinflussen mich oder prallen an mir ab. Jede Art und Weise, mit der ich auf die Welt um mich reagieren kann, füttert mein Verlangen. Ich will so provokativ sein, wie ich provoziert werde.” Provokation wird Shygirl auch 2021 gelingen. Eine Erlaubnis dafür hat sie noch nie gebraucht. Ihren Raum und ihre Zeit schafft sie sich selbst, mit viel Konzept. Manchmal aber auch ganz spontan.
Fotos: Aidan Zamiri, Team Shygirl: (Styling) Lee Trigg, (Haare) Danielle Igor/Virginie Moreira, (Make-Up) Mona Leanne, (Creative) Mischa Notcutt
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 15. Dezember 2020 erschienen.