„Bescheidenheit ist eine Tugend.” Diesen und viele ähnliche Sätze bekommen Frauen im Laufe ihres Lebens immer wieder zu hören. Warum weibliche Personen öfter als Männer tiefstapeln und sie damit aufhören sollten, lest ihr hier.
Wenn in diesem Text von Frauen und Männern gesprochen wird, beziehen wir uns dabei auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Die zitierten Studien berücksichtigen nur die binären Geschlechter „Frau“ und „Mann“. Wir wissen, dass diese Geschlechterzuordnung veraltet ist und teilen diese Ansicht. Leider ist diese Vorstellung jedoch immer noch weitgehend in unserer Gesellschaft verankert.
Als ich neulich mit einigen Freund*innen essen war, habe ich die Gelegenheit genutzt, meine Freundinnen zu fragen, auf welchen ihrer Erfolge sie besonders stolz sind. Die Antwort: verlegenes Lachen und Ausweichen meiner Frage. Nur eine von ihnen konnte mir nach circa einer Minute intensivem Überlegen etwas erwidern. Was mich an dieser Situation schockiert hat? Dass ich nicht überrascht war, dass mir niemand wirklich eine Antwort geben konnte.
Dieses Gedankenexperiment können wir nun mit allen weiblich gelesenen Personen unter euch fortführen: Wann war das letzte Mal, dass ihr euch selbst kleiner gemacht habt als ihr seid? Wahrscheinlich ist das noch gar nicht allzu lange her. Vielleicht war es während eines Bewerbungsgesprächs, als ihr nach beruflichen Erfolgen gefragt wurdet. Ein Kompliment, mit dem ihr nicht umzugehen wusstet. Oder eben, als euch jemand gefragt hat, worauf ihr besonders stolz seid. Die Liste könnte beliebig ergänzt werden. Aber warum schämen wir uns regelrecht für unsere Leistungen und Erfolge?
Sei ein braves Mädchen
Der Ursprung unserer Tiefstapelei liegt schon weit zurück. Von klein auf wurde uns vermittelt, dass wir „brave Mädchen” sein sollen: Lieber still sein, als laut. Nicht zu viel über uns selbst reden. Über die eigenen Fehler lachen. Be „Everybody’s Darling” – Hauptsache nicht unbeliebt machen. „Bescheidenheit ist eine Tugend” ist noch so ein Satz, den bestimmt jede von uns schon einmal zu hören bekommen hat. Und wenn wir Mädchen dann erwachsen werden, bleiben wir am besten bescheiden. Selbstbewusste Frauen gelten als arrogant, anstrengend oder schwierig. Ehrgeiz kann uns Frauen schaden, sowohl beruflich als auch privat.
Jungs hingegen wird beigebracht, sich durchzusetzen und selbstbewusst aufzutreten. Selbst wenn Eltern versuchen ihre Kinder nicht nach Geschlechterklischees zu erziehen, vermitteln dennoch Werbung, Medien, Lehrer*innen oder Erzieher*innen solche stereotypischen Bilder. Diese Verhaltensmuster gehen auf ein Geschlechtermodell zurück, in dem Frauen keine Stimme hatten und Weiblichkeit sanft sein musste, während die mediale Repräsentation männlich dominiert war. Typisch nach dem Klischee: die Frau als gutmütige Mutter und Hausfrau zu Hause hinterm Herd und der Mann verdient als Kopf der Familie das Geld. Diese binären und veralteten Strukturen halten sich leider bis heute hartnäckig.
Wo die Bescheidenheit besonders auffällt
Laut einer Studie von Linkedin trauen Frauen sich oft nicht, in ihrer Karriere für sich einzustehen. Sei es bei Gehaltsverhandlungen oder in Bewerbungsgesprächen. Mit unserer zurückhaltenden Art stehen wir uns also selbst im Weg. Und auch wenn das nicht unsere Schuld ist, stützen wir so indirekt den Gender Pay Gap, der auch heute noch bei 18 Prozent liegt.
Betrachtet man den Gender Pay Gap noch einmal genauer, merkt man, dass vor allem BiPoC und nicht weiße Frauen besonders unter der Ungleichheit leiden. So berichtet unter anderem das Center for American Progress, dass 2022 Schwarze Frauen in den USA 70 Prozent von dem Gehalt weißer Männer verdienten und hispanische Frauen nur 65 Prozent. Im Vergleich dazu lag das Verdienstgefälle bei weißen Frauen bei 83 Prozent und bei asiatischen Frauen bei 93 Prozent. Und diese Ungleichheit hat nichts mit Bescheidenheit zu tun. Bis zu einem gewissen Grad variiert das geschlechterspezifische Lohngefälle je nach ethnischer Zugehörigkeit aufgrund unterschiedlicher Bildung und Berufserfahrung. Oft hat diese Diskriminierung rassistische Hintergründe.
Auch im wissenschaftlichen Bereich zeigt sich der Nachteil von zu großer Bescheidenheit: In Fachjournalen werden häufiger Wissenschaftler zitiert als ihre Kolleginnen. Das liege unter anderem daran, dass Forscherinnen ihre Ergebnisse deutlich bescheidener und mit weniger positiven Attributen präsentieren als Forscher, so eine Studie des British Medical Journal.
Außerdem verzichten viele Frauen darauf, mit ihrem Titel angesprochen zu werden oder ihn bei Veröffentlichungen mit anzugeben. 2018 sorgte ein Tweet von Dr. Fern Riddell deshalb für viel Aufsehen. Die britische Historikerin ließ sich von ungebetenen Kommentaren, die ihren Doktortitel infrage stellten, nicht unterkriegen und stellte sich selbstbewusst hinter ihn. Seitdem zeigen sich Frauen aller Fachbereiche unter dem #immodestwoman, provokant selbstbewusst und präsentieren stolz ihre Titel und Erfolge. Ein kleiner Schritt in Richtung Gleichstellung der Geschlechter.
My title is Dr Fern Riddell, not Ms or Miss Riddell. I have it because I am an expert, and my life and career consist of being that expert in as many different ways as possible. I worked hard to earned my authority, and I will not give it up to anyone.
— Dr Fern Riddell (@FernRiddell) June 13, 2018
Die Konsequenzen der internalisierten Bescheidenheit
Wir trauen uns nicht so viel zu. Wir haben Angst, nicht ernst genommen zu werden und trotz unserer Erfolge klein gehalten, belächelt oder eben als Angeberin abgestempelt zu werden.
Eigentlich sollte dieser Artikel mit Tipps enden, wie wir es schaffen können, selbstbewusster aufzutreten und für uns einzustehen. Aber es ist schwer, Ratschläge zu geben, wenn wir in einer Welt leben, die für weiße cis Männer gemacht ist. Selbst wenn wir uns trauen, unsere Meinung oder Nein zu sagen, werden wir oftmals überhört oder nicht ernst genommen. Und das ist nicht nur anstrengend, sondern auch frustrierend.
Jeden Tag kämpfen Frauen, besonders Women of Color, viele einzelne Kämpfe. Und am Ende müssen wir entscheiden, in welchen Ring wir steigen, ohne dass unsere gesamte Energie dafür aufgebracht wird. So wählen viele Frauen den einfacher erscheinenden Weg: bescheiden sein und nicht „unangenehm” auffallen.
Aber das versteckt unsere Kompetenzen und bringt uns nicht weiter. Wenn wir gehört werden und gleichgestellt sein wollen, müssen wir zeigen, wer wir sind. Vor allem sollten wir stolz auf uns sein und auf alles, was wir erreicht haben. Wir waren lange genug bescheiden.
Wir können versuchen in einem sicheren Umfeld, zum Beispiel mit guten Freund*innen, unsere Bescheidenheit abzulegen: Bei Komplimenten einfach mal nur „Danke” sagen, uns für unsere Erfolge feiern lassen und auch selbst stolz auf unsere Leistungen sein. Das macht uns nicht automatisch zur Angeberin. One step at a time.
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