Neue Gesichter und Meta-Denker*innen: Wer überzeugt bei der aktuellen 080 Barcelona Fashion Week?

Fotos: 080 Barcelona Fashion Week / Collage: BLONDE Magazin
Sie reisen vom 19. Jahrhundert in die 90er-Jahre und philosophieren über das Universum: Die Designer*innen der aktuellen 080 Barcelona Fashion Week wollen mit ihren Kollektionen viele Diskurse anstoßen. Welche im Gedächtnis bleiben, haben wir hier zusammengefasst.

Vor wenigen Stunden haben die letzten Designer*innen bei der dritten Digital-Edition der 080 Barcelona Fashion Week ihre aktuellen Kollektionen präsentiert. 22 Mal konntet ihr euch dafür in den Livestream einloggen und in der virtuellen Front Row platznehmen. Und während viele die Eindrücke der letzten vier Tage noch verarbeiten, haben wir uns schon mal auf die Suche nach den Highlights gemacht. Zu ihnen gehören die folgenden sieben Designer*innen. In ihren Arbeiten betrachten sie den Status Quo einer Welt, die den Atem anhält und gleichzeitig wieder euphorisch zelebriert. Das bewegt die sieben Talente in zweierlei Form: Die eine Hälfte schaut auf die Vergangenheit, die andere widmet sich philosophischen Fragen der Gegenwart und Zukunft. Welche der beiden Richtungen Paloma Wool, Paola Molet, Martín Across, Txell Miras, Lebor Gabala, Antonio Marcial und Moises Nieto einschlagen und was unsere Eindrücke ihrer Kollektionen sind, erfahrt ihr hier.

Vom 19. Jahrhundert bis in die 90s: Diese Designer*innen untersuchen die Vergangenheit

Gegen Sexismus in der Kunstwelt: Paola Molets Hommage an Camille Claudel

Dass die Designerin Paola Molet große optische Aufreger liebt, beweisen schon die Make-Up-Looks ihrer Kollektion „Camille”. Verlaufen-verheulte Mascara, scharlachrote Lippen und weiß gepuderte Haare erinnern an einen Crossover aus elisabethanischen Beauty-Looks, Lagerfeld und Scream-Movie. Die Mode aus asymmetrischen XXL-Volants, überschnittenen Schulternähten und offensivem Materialmix machen den Drama-Look perfekt. Tatsächlich aber ist der Hintergrund von „Camille” ein anderer. Die Jungdesignerin Molet hat ihre Kollektion der französischen Bildhauerin und Künstlerin Camille Claudel (1864-1943) gewidmet. Mit ihrer Geschichte soll die Kollektion gleichzeitig auch ein Kommentar zu sexistischen Machtverhältnissen in der Kunstwelt sein. Die Künstlerin Claudel sei mehr für ihr Liebesleben und das Verhältnis zu ihrem Kollegen Auguste Rodin in Erinnerung geblieben anstatt für ihr eigenes Werk, sagt Paola Molet. Das sei ein Beispiel für viele Mechanismen, in denen Frauen nur Musen blieben, Männer aber als Genies und perfekte Kreateure gefeiert würden. Molet selbst befindet sich auf dem besten Weg, andere Verhältnisse zu schaffen: Erst im Frühjahr zeigte sie zum ersten Mal bei einer Digital-Ausgabe der 080 Barcelona Fashion Week. Damals stellte sie mit der Kollektion „Oh, l’amour” die Ausdrucksformen der Liebe infrage.

Solare Sehnsucht: Lebor Gabala und der kalifornische Traum

Vielleicht war es einer der vielen Lockdown-Spaziergänge, der das Team von Designerin Maite Muñoz zum Blick in die Vergangenheit inspirierte. Für die aktuelle Kollektion ihres Labels Lebor Gabala geht es jedenfalls zurück zu einem beliebten Motiv der Popkultur: „California Dreamin’”. Den gleichnamigen Song der Band The Mamas and the Papas sollen die Gründungsmitglieder John und Michelle Philipps ja angeblich an einem kalten Tag in New York geschrieben haben. Und so ist auch die Frühjahr/Sommer-Kollektion 2022 von Lebor Gabala aus der Sehnsucht zu wärmeren Tagen entstanden. In die „solare Atmosphäre” von Kalifornien wollen uns die Designs zurückversetzen, direkt auf die Küstenstraßen der US-amerikanischen West Coast. Kein Wunder also, dass typische California-Catchphrases auch die Kollektion beschreiben: Florale Prints und solche, die an psychedelischen Jacquard erinnern, Casual Chic, Sonnenhüte und Seidentücher, die 70er. Was ist dabei aber neu? Der Einsatz von Bio-Baumwolle im offen gewebten Strick- und Häkelwerk, zum Beispiel. Oder digital bedruckte Sweater, die die Motive der Kleider, Röcke und Shirts aufgreifen.

Eskapismus in die 90er mit Moises Nieto

Ein neues Gesicht unter den Nostalgiker*innen der Fashion Week ist der Designer Moises Nieto. Bei der digitalen 080 Barcelona Fashion Week mag er ein Neuzugang sein, hat in Spanien aber bereits mit Brands von Eastpak bis eBay zusammengearbeitet. Pünktlich zum zehnten Geburtstag seines eigenen Labels ist Nieto jedoch an einen Punkt der Überreizung gestoßen. Zu viele Informationen, zu viele Bilder, eine rasante Geschwindigkeit im Ökosystem der Mode seien eine Norm geworden, die überfordert, sagt der Designer. Sein Coping-Mechanismus gleicht dem vieler Menschen: Es ist eine Rückbesinnung an die eigenen Kindheit. Genauer gesagt das Jahr 1990. Für Moises Nieto besteht das aus folgenden Bildern: Zierdeckchen, Vorhänge aus Spitze oder Pflanzen im Innenhof. Ohne große metaphorische Umschweife übersetzt er diese Motive nun in eine auf Handwerkskunst fokussierte Kollektion. Aus den Spitzendeckchen und Vorhängen werden darin gehäkelte (Bandeau-) Tops, fließende Kleider und Spitzen-Röcke, die Pflanzen sind auf großflächigen Prints zu finden. Mehr Spielraum gibt’s bei den Silhouetten: Während Nieto an mancher Stelle auf Raffungen setzt, lässt er vor allem die Verzierungen und Makramé-Stränge anderer Looks locker ins Leere laufen. Vielleicht ist das seine Botschaft über ambivalente Gefühle zu Zukunft und Gegenwart?

Meta-Denker*innen: Welche Labels philosophische Statements für die Zukunft setzen wollen

Düster, oder doch nicht? Die versteckte Analyse von Antonio Marcial

Ähnlich wie seine Kollegin Paola Molet feierte auch Antonio Marcial sein Debüt bei der 080 Barcelona Fashion Week im Frühjahr 2021. Schon damals widmete er seine genderneutralen und dekonstruierten Designs den extremen Gefühlen von Menschen. Diese Untersuchungen trägt Marcial mit seiner neuen Kollektion eine Stufe weiter. Dabei zeigt der Designer nicht nur optisch gerne mit dem Finger auf Antithesen. Mit „Cruel and Soft” präsentiert er eine Kollektion, die sich mit verschiedenen Interpretationen von düsteren Emotionen und Gewalt auseinandersetzen will. Antonio Marcial möchte dazu anregen, den gewaltsamen Umgang in uns selbst zu untersuchen, in Gesellschaften und in der Spezies Mensch. So fragt er zum Beispiel: Wie brutal muss Gewalt sein, bis wir sie wahrnehmen? Liegt es an unserer eigenen gewaltsamen Natur, wenn wir sie übersehen? Diese Meta-Hintergründe dürften auf den ersten Blick überraschen, sind Marcials Designs doch auch in dieser Kollektion von Ocker-Farben und Pastelltönen geprägt, von Leinen-Batik und den Raffungen und drapierten Falten, die seinen Signature-Look ausmachen. Als Zusatz zeigt der Designer dann noch übergroße Ohrringe, die in den meisten Looks an nur einer Seite getragen werden. All das zusammen könnte Marcials Hinweis darauf sein, dass er bereits erkannt hat, wie subtil harte Gefühle sind – und welche manchmal trotzdem direkt vor unseren Augen liegen.

Across the Globe mit Martín Across

Zu den vielversprechendsten Neuzugängen der 080 Barcelona Fashion Week zählt Martín Across. Aus seinem Nachnamen macht der junge Designer Programm: Across, also die englischsprachige Präposition, soll auch die umspannende Geschichte von Martín selbst erzählen. Er findet sich zwischen Wurzeln in Ecuador – dort werden seine Designs auch handgefertigt – und Spanien, zwischen ätherischen Traummomenten und Technologie. Für seine Designs bedeutet das absolut zeitgeistige Schnitte und Farbgebungen, die zum größten Teil aus Asymmetrie und malerischen Verläufen, aber auch aus manipulierten Mustern bestehen, wie sie nur ein Photoshop-Filter erzeugen kann. Mit seiner Y2K-Remineszenz wendet sich Martín Across an gleichgesinnte „Reisende”, wobei die Reise mehr metaphorisch gemeint ist. Meta-philosophisch wird’s aber besonders in dieser Kollektion, denn schon der Titel „On the Fragile Nature of Life” ist bedeutungsschwanger. Mehr als um die Zerbrechlichkeit des Lebens soll dabei der konstanten Bewegungsprozess im Fokus stehen, in dem wir uns befinden. Auf dem Laufsteg in Barcelona wird diese Bewegung durch Schirme verkörpert, die den Models wegzuwehen scheinen und Tücher, deren Bewegung im Wind wie eingefroren wirkt. Die Muster dieser Kollektion symbolisieren außerdem eine Art Meer, das vom Körper hin- und weg ebbt, so Accross. Klingt nach einer Welle, die es sich zu reiten lohnt, oder?

Die Uniform des Universums: Txell Miras

Auch die Designerin Txell Miras ist eine Freundin der Meta-Botschaften. So sollte ihre letzte Kollektion der Gesellschaft wortwörtlich einen Spiegel vorhalten. Im Gegensatz zu ihren Kolleg*innen macht Miras in dieser Saison aber einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Die monochromen Designs ihrer Kollektion „(A)Simfonia” enthalten vielmehr kryptische Botschaften für ihre Träger*innen. Der Kollektionsname ist eine Anspielung auf Disharmonien und fehlende Balancen. Um konstante Transformation soll es außerdem gehen, um die Flüchtigkeit der eigenen Existenz. Transformation sei laut Miras abhängig von kleinen Bewegungen. Ob sie damit das übliche Symbolbild von kleinen Teilen meint, die ein großes Ganzes bewegen? Was auch immer genau die Botschaft der Designerin ist, sie vermittelt in Uniformen aus Wolle, Baumwolle und Neopren, wie sie auf einem dystopischen Planeten getragen werden könnten. Die Farben liegen in Grau-, Schwarz- und Weißtönen, Fuchsia und ein Yves-Klein-inspiriertes Blau geben ein seltenes Gastspiel. Besonders dürften im uniformierten Look aber die Filzkappen im Gedächtnis bleiben, die den uniformierten Look aus anderen Universen nur noch einmal unterstreichen. So sehr, dass wir uns nicht wundern würden, wenn Txell Miras in der nächsten Sci-Fi-Serie als Kostüm-Credit auftaucht.

In der besten Endlosschleife mit Paloma Wool

Ob sich Paloma Wool, Txell Miras und Martín Across wohl abgesprochen haben? Vermutlich nicht, dennoch ist aber auffällig, wie sehr die verschiedenen Designer*innen in dieser Saison Philosophien rund um die endlose Verbindung von Gegensätzen teilen. Dasselbe gilt für das Konzept kleiner Teile, die ein großes Ganzes bewegen. Klingt alles ziemlich verkopft, weshalb wir uns an dieser Stelle eher der Erklärungen von Hype-Designerin Paloma Lanna und ihrem Label Paloma Wool bedienen. Dessen aktuelle Kollektion „Eternal Loop“ vertritt in jeder Hinsicht einen klar gemeinschaftlichen Ansatz. Die endlos wirkenden Muster der Kollektion sollen symbolisieren, wie alles auf und jenseits dieses Planeten miteinander verknüpft ist. „Alles ist verbunden, die Kette wurde nie durchbrochen” lautet das klare Mantra. In ihrer internen Kette setzt Designerin Lanna dafür auch immer wieder auf Verbindung. Vorrangig mit lokalen Produzent*innen arbeitet sie zusammen, und mit Künstler*innen verschiedenster Disziplinen. Auch die eigenen Shows des Labels erwecken mehr den Eindruck von Performance als von bloßer Präsentation. In Kreisformation, präsentiert in Reih und Glied, aber auch als lockerer Fit beim Plausch mit den Freund*innen – Kleidung wird bei Paloma Wool performt. Vielleicht hat genau das der Marke das zu ihrem nachhaltig starken Online-Following geholfen. In einer regen Community entsteht für Follower*innen schließlich auch der Gedanke, dem Designprozess ganz nahe zu sein. Oder, wie es im „Eternal Loop“ heißen würde: Für immer miteinander verbunden.

In Kooperation mit 080 Barcelona Fashion.

Fotos: 080 Barcelona Fashion

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