Mit ihrer nackten Haut hat Ísold Halldórudóttir kein Problem, soziale Medien schon. Sind positive Körperbilder eine Netzillusion?
Es gibt einen Kurzfilm, in dem laufen auf schwarz-weiß flimmernden Bildern junge Frauen durch eine verlassene Landschaft, ziehen sich aus, sind nackt. In 3:17 Minuten läuft dazu ein Voice-over, es geht um Immigration, um Hoffnung, Veränderung, Stabilität, Flucht, aber auch Zuhause und Freiheit. Hinter der Kamera steht die Isländerin Ísold Halldórudóttir, es ist ihr Film. Mit Freiheit kennt Ísold sich aus, obwohl sie die nicht hat. Denn: Für die Freiheit ihres eigenen Körpers kämpft die Isländerin auf Instagram.
Laut eigener Definition ist Ísold Model, Künstlerin, Aktivistin. Auch wenn eine solche Jobbezeichnung heute für Achselzucken sorgen kann, so hat Ísold für jedes ihrer Interessenfelder Belege auf großer Skala. Als Model posierte sie für Magazine wie „Dazed“ und für „Love“ vor der Kamera von Kendall Jenner („Damals war mir gar nicht klar, was für eine Riesensache das war!“). Als Künstlerin hat sie „Icelandic Girls“ geschaffen, den Kurzfilm, der Körperbild- und Immigrationsdebatte zusammenbringen soll. Als Aktivistin kommt für sie das Thema Online-Freiheit ins Spiel. Ísold hält ihren eigenen Körper auf Instagram in die Kamera, hat den #fatgirloncam ins Leben gerufen, das Wort „fett“ für sich zurückerobert. Die Isländerin zeigt viel Haut, weil sie viel Haut hat. Und genau dafür wurde ihre Freiheit eingeschränkt. Zwei von Ísolds Beiträgen wurden bereits gelöscht, auf denen sie sich zwar freizügig zeigt, aber nicht nackt, sondern den Richtlinien entsprechend. Sie selbst sagt, sogar ihr gesamter Account sei schon einmal grundlos verschwunden.
Ebenso wie ihre Berufsbezeichnungen könnte es Achselzucken auslösen, mit Ísold Buzz-Talk über Body Positivity, Körperbilder und Schönheitsideale zu betreiben, es wäre schließlich der erste Gedanke. Auf Nachfrage, welches Thema ihr gerade besonders am Herzen liege, lenkt Ísold selbst auf die Zensur ihres Körpers durch soziale Netzwerke. Und weniger dringlich wird diese Diskussion nicht, vor allem dann, wenn bei Ísolds Erzählungen die Blase einer inklusiven und progressiven Online-Welt ziemlich schnell zerplatzt. „Eine Begründung für das Löschen habe ich von Instagram direkt niemals erhalten“, erinnert sie sich.
Die Diskriminierung im Algorithmus
Ísold selbst vermutet dahinter Gründe, die sie erst recht zur Aktivistin gemacht haben. „Der aktuelle Algorithmus findet und markiert eben Bilder, die Nacktheit zeigen. Jede fette Person wird so automatisch zur Bedrohung der Guidelines – allein schon weil mehr Haut gezeigt wird. Bei einer halb so großen Person hätte man vielleicht nichts entdeckt.“ Ein Beispiel dafür könne ein ganz normales Foto von ihr in Unterwäsche oder Bikini sein, findet Ísold, oder ein Post, in dem sie ihren Hintern feiert.
Widersprüchlich erscheint diese Doppelmoral in einem Netzwerk, das neben Strandbildern und Retusche doch gleichzeitig schon lange mit Artworks, Hashtags und Prominenten zu Vielfältigkeit und „Realness“ aufruft. Ísold selbst postet weiterhin mit Skepsis. „Wenn eine Person meinen Post meldet, findet sie mich entweder hässlich oder denkt, dass ich mich unangemessen verhalte und Fettleibigkeit promote. Wenn dieser Post später von Mitarbeitern bei Instagram überprüft wird – wer weiß, ob die das nicht vielleicht genau so sehen? Wir denken bei fetten Menschen automatisch noch an eine unangenehme Konfrontation mit dem, was wir niemals werden wollen.“
Nackheit als künstlerische oder kreative Darstellungsform
Stichwort: Konfrontation. Auf Nachhaken von BLONDE deklariert Instagram das Verschwinden von Ísolds Beiträgen als Fauxpas und verweist auf die eigenen Community-Guidelines. Darin heißt es, man wisse, dass manche Personen Bilder von Nacktheit als künstlerische oder kreative Darstellungsform teilen möchten, aus verschiedenen Gründen sei Nacktheit im sozialen Netzwerk aber nicht zulässig. Dazu gehören laut Guidelines Inhalte mit Geschlechtsverkehr, Genitalien oder nackten Gesäßen. Bei der Löschung von Ísolds Beiträgen handele es sich aber um einen einfachen Fehler, sagte ein Sprecher der Facebook Company gegenüber BLONDE. „Wir haben aus Versehen einen Feed Post gelöscht und entschuldigen uns dafür. Den Fehler haben wir sofort korrigiert, nachdem wir davon erfahren haben. Jeder Mensch ist auf Instagram willkommen und kann sich im Rahmen unserer Gemeinschaftsrichtlinien frei entfalten.“
„Body Positivity wird für mich überbewertet, weil sie den Eindruck erweckt, dass du immer im Einklang mit dir sein solltest. Das ist offensichtlich unrealistisch. Wichtig ist, dass du dich nicht den Schönheitsvorstellungen der Gesellschaft beugst, sondern sie selbst definierst.”
Welch unterschiedliche Welten die freie Entfaltung im Netz und im realen Leben sind, dürfte auch Ísold klar sein. „Natürlich lauern manchmal Augen auf mir, aber ich bin mit einer dicken Haut aufgewachsen, also lasse ich es nicht an mich heran“, antwortet sie auf die Frage, ob sie die Erfahrungen der Online-Welt auch im Alltag erlebe. Daran, dass das Konzept von Body Positivity eigentlich schon überholt und durch körperneutrale Einstellungen ersetzt sei, würde Ísold gerne glauben. Dass es explizit Body Positivity brauche, solange es negative Einstellungen zum Körper gibt, glaubt sie nicht unbedingt. „Body Positivity wird für mich überbewertet, weil sie den Eindruck erweckt, dass du immer im Einklang mit dir sein solltest. Das ist offensichtlich unrealistisch. Wichtig ist, dass du dich nicht den Schönheitsvorstellungen der Gesellschaft beugst, sondern sie selbst definierst.”
Frei nach dänischer Art
Ísolds Umgang mit Alltagsdiskriminierung könnte in der eher zurückhaltenden Natur der Isländer liegen. Sie beschreibt ihre Heimatkultur als „verschlossener“, zum Beispiel im Vergleich zur dänischen. Als Ísold noch ein Kind ist, zieht sie mit ihrer Mutter nach Kopenhagen, nach sieben Jahren geht es zurück nach Island, da ist Ísold Teenager. Heute wohnt sie im Zentrum von Reykjavík, vier Blocks sind es über die Haupteinkaufsstraße zur Uferpromenade, die imposante Hallgrimskirche liegt um die Ecke. Kopenhagen sei aber nach wie vor ein Zuhause außerhalb der Heimat. Die dänische Art liegt Ísold näher als das, was sie jeden Tag umgibt.
„Eventuell müssen wir uns bald in eine andere Richtung bewegen, eine, die Vielfalt erlaubt, statt sie bekämpfen”, sagt Ísold über soziale Netwerke. Das könnte aber auch gemeinsam funktionieren.
Und vielleicht hat gerade ihre innere Dänin es Ísold erlaubt, Chancen zu ergreifen. 2017 bewirbt sie sich bei einem Wettbewerb des UK-Magazins „Love“, um von Hype-Model Kendall Jenner fotografiert zu werden. Von der Hand Kendalls wandert die Kamera aber schließlich in Ísolds eigene, als Katie Grand, Chefredakteurin des Magazins, sie bittet, die Fashion Week in Mailand backstage zu begleiten. Mit einer Kamera hatte Ísold zuvor noch nie gearbeitet. Sie fand jedoch so viel Gefallen an ihrer Arbeit, dass im August letzten Jahres „Icelandic Girls“ entstand, ihr Kurzfilm.
Man findet das Werk heute auf Ísolds Instagram-Profil. Es zeigt Nacktheit in verschiedensten Größen, gelöscht wurde „Icelandic Girls“ selbst aber nicht. Wäre das der Fall, vielleicht würde die Künstlerin Ísold Halldórudóttir das Netzwerk dann endgültig verlassen: „Wenn du nicht authentisch sein kannst, werden die Möglichkeiten der eigenen Promotion irrelevant“, sagt sie. Vielleicht sollte man eine neue Plattform schaffen, überlegt Ísold, vielleicht die Instagram-Richtlinien ganz abschaffen. „Eventuell ist Instagram bald überholt und wir müssen uns in eine andere Richtung bewegen. Eine, die Vielfalt erlaubt, anstatt sie zu bekämpfen.“ Das könnte aber auch gemeinsam funktionieren. Nach unserem Nachhaken sind Instagram und Isold im Austausch, sprechen sogar über gemeinsame Features. Und am Ende beschreibt das Voice-over aus „Icelandic Girls“ die Philosophie seiner Kreateurin vielleicht am besten, auch wenn das Thema eigentlich ein anderes ist: „Zu leben und glücklich zu sein, das verdienen wir alle. Und solange du auf diesem Planeten bist, hast du auch das Recht dazu.”
Fotos: Anna Margret
Make-Up: Íris Ósk Hallgrímsdóttir
Diese Story ist in unserer BLONDE-Ausgabe #048 und online zuerst am 10. April 2020 erschienen.