Streitgespräch: Sind physische Berührungen ein Ausdruck der Zuneigung oder Eingriff in den persönlichen Space?

Foto: Анатолий К.⁠
Nicht erst seit der Pandemie möchten einige Menschen auf Abstand gehen. Andere wiederum sehnen sich erst recht nach körperlicher Nähe. Wie fühlen sich beide Seiten? Unsere Autor*innen geben einen Einblick.

Wer sich mit dem Thema Kommunikation in Beziehungen – platonisch wie romantisch – beschäftigt hat, wird unweigerlich an einem Punkt auf die „Fünf Sprachen der Liebe” gestoßen sein. Dahinter steckt die Idee, dass jede*r von uns Liebe und Zuneigung auf fünf verschiedene Ausdrucksweisen verstehen und kommunizieren kann: durch Worte der Anerkennung, Geschenke, Unterstützung, gemeinsame Zeit und physische Berührungen. Ganz ausgereift und bewiesen ist dieses Modell vom baptistischen Pastor und Beziehungsberater Gary Chapman zwar nicht, vielen Menschen hilft diese einfache Kategorisierung aber zu erkennen, dass jede Person auf anderen Kanälen kommuniziert. Auch unsere Autor*innen haben gemerkt, dass sie in unterschiedlichen Love Languages kommunizieren. Während unser Redakteur – laut Chapmans eigenem Online-Test – der physische-Berührungs-Typ ist, ist unsere Redakteurin sein „Bitte nicht Anfassen”-Gegenpol. Im Streitgespräch erklären sie, warum die eine Person Umarmungen als Ausdruck tiefer Freundschaft empfindet und die andere lieber aus drei Metern Entfernung winkt.

Dagegen: Wer hat Umarmungen als Gruß- und Abschiedsformel überhaupt erfunden?

Ich mag keine Umarmungen. In der Theorie sollten Menschen diese Aussage akzeptieren; meine Seite des Streitgesprächs wäre demnach bereits abgeschlossen. In der Realität sieht es anders aus, denn viele Menschen fühlen sich vor den Kopf gestoßen, wenn ich sie statt mit offenen Armen nur mit einer energisch winkenden Hand begrüße. Das wirkt vermutlich kühl, distanziert und manchmal auch einen Tick arrogant. Dabei geht es mir bei der Ablehnung körperlicher Nähe gar nicht um die emotionale Ausgrenzung meines Gegenübers, sondern um mich selbst. Wie weird ist es bitte, jemanden im Arm zu haben, den ich entweder noch nie gesehen habe oder nur alle paar Monate treffe? Zur Vorbereitung auf diesen Beitrag wollte ich mehr über den geschichtlichen Kontext der Umarmung herausfinden. So viel verbirgt sich dahinter nicht: Wie sich herausstellt, haben wir irgendwann den Handschlag mal mehr, mal weniger festes in die Arme schließen ausgetauscht. Oft wird darauf hingewiesen, dass wir diese Art von Nähe mit Geborgenheit aus der Kindheit verbinden, schließlich wurden die meisten von uns die ersten Jahre eng am Körper unserer Eltern getragen, was nicht weit von einer Umarmung entfernt ist.

„Ich möchte Menschen, die ich nicht wirklich kenne, physisch einfach nicht so nahe sein. Consent und Boundaries existieren nicht nur in romantischen, sondern in allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen.”

Dabei sprechen wir aber eben von Eltern. Die Personen, die seit Tag eins in meinem Leben waren und zwischen denen ich nachts geschlafen habe, wenn ich schlecht geträumt hatte. Ich betrachte das Thema der körperlichen Nähe bei Eltern vollkommen anders als bei Freund*innen oder gar Unbekannten. Ja, teilweise sehe ich meine engsten Freund*innen als Teil der Familie und diese umarme ich auch öfter. Aber von anderen Menschen fast schon floskelhaft zur Begrüßung an die Brust gedrückt zu werden, was ich immer mit einem akward Klopfer auf den Rücken erwidere? Da haben beide Parteien nichts von. Ich möchte Menschen, die ich nicht wirklich kenne, physisch einfach nicht so nahe sein. Consent und Boundaries existieren nicht nur in romantischen, sondern in allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie bereits gesagt werden meine Grenzen von vielen oft missverstanden, da eine Umarmung als Begrüßung mittlerweile so ein Standard ist, wie es das Händeschütteln einmal war.

Egal ob ich Kleidung trage oder nackt bin, ob eine sexuelle Komponente mitschwingt oder die Berührungen rein platonisch sind: Für mich ist es etwas Intimes, jemanden nah an den eigenen Körper zu lassen. Mir signalisieren Gesten wie Umarmungen und Kuscheln, dass eine Person vollkommene Sicherheit empfindet. Wenn ich also in einem stillen Moment ankomme und meinen Kopf auf jemandes Schulter lege oder nach einer Umarmung frage, weiß diese Person: Ich fühle mich wohl bei mir. Wenn ich das bei jedem Menschen so machen würde, hätten diese Gesten keinerlei tiefere Bedeutung mehr. Zumindest nehme ich das so wahr. Ich würde fast sagen, dass man sich meine Umarmungen verdienen muss. Als ich jünger war, wollten mich alle Freund*innen meiner Mutter immer in den Arm nehmen. Natürlich kannte ich sie vom Sehen, dem ein oder anderen Gespräch oder auch aus gemeinsamen Urlauben. Aber es bleiben die Freund*innen meiner Mutter, nicht meine. Irgendwann haben sie dann verstanden, dass ich es einfach nicht mochte, angefasst zu werden. Aus unangenehmen Witzen wurden irgendwann ehrliche Fragen danach, ob eine Umarmung für mich okay wäre. Heute freuen sie sich, wenn ich von alleine auf sie zukomme. Sie wissen, was es bedeutet.

Psycholog*innen können jetzt tiefer analysieren, dass ich als Kind nicht genug oder zu viel Nähe erfahren habe und mich deshalb heute schwer damit tue. Mir ist es gar nicht so wichtig zu wissen, woher meine Vorliebe für physische Distanz kommt. Vielmehr wünsche ich mir, dass Menschen verstehen, dass meine vermeintliche Ablehnung ihrer nett gemeinten Geste nicht gleich bedeutet, dass ich mein Gegenüber nicht mag. Es ist einfach nur ein Ausdruck meiner persönlichen Grenzen. Wenn ich Menschen erkläre, warum ich nicht so der Touchy-Typ bin, vergleiche ich mich gerne selbst mit einer Katze. Katzen sind sehr eigensinnig und beobachten oft erst einmal Personen, die neu in ihr Leben kommen. Nach einer gewissen Zeit setzen sie sich neben eine Person und lassen sich eventuell die Ohren kraulen, bis sie irgendwann schnurrend auf dem Schoß einschlafen. Wenn ihr mir also Zeit gebt, schlafe auch ich vielleicht irgendwann glücklich und mit dem Gefühl von Sicherheit mit dem Kopf auf eurer Schulter ein und schnurre leise.

Dafür: Come closer – Was mir körperliche Nähe bedeutet

„It’s just a little crush”, singt Jennifer Paige auf ihrem gleichnamigen 90er-Hit „Crush”. Ich habe diese Zeile oft missverstanden. Statt von einem „Crush”, dachte ich, sänge Paige von einem „touch”. Für mich beschreibt diese Misheard-Lyric-Zeile – „it’s just a little touch” – ziemlich gut, wie ich zu körperlicher Nähe stehe. Direkt mal vorweg: Dass eine Berührung für viele Menschen eben nicht „nur“ eine kleine Geste bedeutet und diese Zeile sehr wohl fehlinterpretiert werden kann (ganz nach dem Motto „stell dich nicht so an, ist doch nur ein kleiner Touch!), ist mir bewusst. Ich versuche deswegen, die Grenzen meiner Mitmenschen bewusst wahrzunehmen, zu erfragen und zu respektieren. Meine eigenen Grenzen habe ich natürlich auch, aber dazu gleich mehr. Hier geht es vielmehr darum, warum ich einvernehmliche körperliche Nähe schätze. Ob diese immer wirklich zu 100% einvernehmlich ist, oder eher von sozialen Normen und Druck gefördert, ist natürlich nicht immer einfach zu bestimmen. Ich schreibe diesen Text hier aber auf Basis dessen, dass ich glaube zu wissen, wer in meinem Freund*innenkreis welche Einstellung zum „little Touch“ pflegt. Bei fremden Menschen versuche ich oft, eine Millisekunde innezuhalten, um sie die Umarmung initiieren zu lassen – wenn sie denn wollen.

Falls es aber zur Umarmung kommt, denke ich mir eben: „It’s just a little touch”. Soll heißen: Ich nehme die Nähe der Körper eben fast so selbstverständlich wahr wie ein „Hallo” – fast insignifikant. Das heißt aber trotzdem nicht, dass sie mir ganz egal wären. Eine Umarmung unter Freund*innen zum Beispiel löst für mich ein wohliges Gefühl aus. Ich muss sie dafür nicht ewig drücken. Wenn wir uns aber lange nicht gesehen haben und unsere Einstellung zu körperlicher Nähe auf gleicher Ebene liegt, darf der lange „Hug” gerne mal stattfinden. Für mich kann eine Umarmung aber noch viel mehr sein: Ein Zeichen der Zuneigung, eine Begrüßungsgeste, ein Ritual, aber auch ein sicherer, schützender Ort der wortlosen Fürsorge. 

Wortlos ist hierbei ein Stichwort für mich, denn: Ich rede viel, besonders über Gedanken und Gefühle. Manchmal aber erwische ich mich beim klischeehaften Eindruck, dass sich vor allem Gefühle der positiven Zuneigung nicht mit Worten ausdrücken lassen. Oder, dass Worte falsch rüberbringen, was ich meinem Gegenüber eigentlich vermitteln möchte, und körperliche Gesten das viel besser ausdrücken können. Ich kann hier noch nicht mal genau formulieren, was ich damit meine. Um es euch Lesenden zu vermitteln, würde ich euch vermutlich besser umarmen. 

„Ich finde es toll, dass uns neben Worten körperliche Berührungen in verschiedenen Beziehungen ein weiteres Set an Ausdrucksmöglichkeiten geben können.” 

Ich erinnere mich an einen Augenblick auf einer Hausparty vor mehr als zehn Jahren, als ich einer anderen Gästin anbot, sie in einer für sie traurigen Situation in den Arm zu nehmen. Sie lehnte ab. Vielleicht war das einer der ersten Momente, in denen ich begann, auch mein eigenes Verhältnis zu körperlicher Nähe zu hinterfragen. Ich würde mich heute vielleicht in der Mitte des Touch-Spektrums verorten. In romantischen oder sexuellen Partnerschaften ist mir körperliche Nähe und Kuscheln wichtig, einschlafen möchte ich trotzdem lieber allein, mit freiem Raum und nicht eng umschlungen. Mit meiner besten Freundin spaziere ich mal platonisch Hand in Hand über die Straßen, kuschle mit ihr im privatem Raum. Aber natürlich gibt es Grenzen. Grenzen, um welche Freund*innenschaft es geht, und Grenzen, die für mich das Platonische vom Romantischen abgrenzen.

Ähnliche Grenzen gilt für Körperkontakt innerhalb der Familie. In meiner, beziehungsweise unter meinen Eltern, haben wir in meiner Kindheit meiner Ansicht nach „entspannten” Umgang mit Nähe gepflegt. Das änderte sich, als sich meine Eltern scheiden ließen, und ich ein neues (körperliches) Näheverhältnis zu ihren Partnerpersonen aufbauen musste. Was ich daraus mitgenommen habe: Wir halten es eben so, dass wir uns berühren können, wenn wir es wollen und tolerieren, dass jedes Mitglied der Familie ganz unterschiedliche Empfindungen zu Umarmungen und Co. hat. It’s a little touch for some, but not for everyone. 

Ich bin trotzdem dankbar dafür, wenige, wichtige Menschen in meinem Leben zu haben, mit denen ich mein Nähebedürfnis im großen Stil teilen kann.Vielleicht liegt mein Schlüssel bei „it’s just a little touch” deswegen genau im Wort „little“. Ich finde es toll, dass uns neben Worten körperliche Berührungen in verschiedenen Beziehungen ein weiteres Set an Ausdrucksmöglichkeiten geben können. Für mich schafft ein kleiner Kniff oder Stupser von Freund*innen ein komfortables Setting, in dem ich mich ihnen verbunden fühle. Eine leicht aufgelegte Hand auf der Schulter unterstreicht oder ersetzt vielleicht sogar eine Botschaft von Support. 

Im Abstand von ein paar Monaten habe ich zuletzt eine Freundin besucht, die ich gerade nicht mehr häufig sehe. Als wir uns das erste Mal wieder trafen, schrieb sie mir ein paar Tage später, wie schön sie unser Treffen gefunden hätte. Ich antwortete ihr freudig, dass es mir genauso ging, und dachte noch länger darüber nach, wie glücklich mich die Nachricht gemacht hatte. Als wir uns in der letzten Woche dann erneut sahen, war ich drauf und dran, ihr dieselbe Message in einem Wortschwall zum Abschied übermitteln zu wollen. Sie aber sagte nichts. Stattdessen umarmte sie mich fest. So lange, wie es selten passiert.  

Noch mehr große und kleine Fragen stellen wir hier: 

Biopics, Deepfakes, Hologramme: Warum lassen wir berühmte Personen nicht ruhen?

Streitgespräch: Will ich Chef*in sein oder nicht?

(Noch nicht) 30 über Nacht: Sind wir jemals zu alt für Neuanfänge?

Mehr von BLONDE MAGAZINE

Fotostrecke: This is (still) Barbie’s Dreamhouse!

In einem Traum(haus) in Pink zeigt dieses Editorial, warum Barbie auch dieses...
Read More