Streitgespräch: Will ich Chef*in sein oder nicht?

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Trotz ähnlicher Vorraussetzungen sind sich unsere Autor*innen in Sachen Führungsverantwortung nicht einig: Die Eine will führen, der Andere nicht. Warum sie damit typisch für Millennials sind, spiegelt ihr Streitgespräch.

Vor kurzer Zeit gab es einen popkulturellen Moment, da ließ Kim Kardashian sich darüber aus, dass heutzutage kaum noch ein Mensch wirklich hart arbeiten wolle. Darauf folgte negatives Feedback, gelinde gesagt. Zu Recht: Solche Aussagen sind mindestens realitätsfern. Aber nicht nur Kim Kardashian nimmt wahr, dass sich die Einstellungen zu Arbeitswelt und dem Dasein als Führungskraft auch in Gesellschaftsgruppen verändert, die nicht zu den oberen Zehntausend gehören. Vielleicht hätte sie mehr Recht behalten, hätte sie nicht darüber gesprochen, ob Menschen nicht mehr arbeiten wollten – sondern wie.

Millennials und Co: Will noch eine*r Führungskraft sein?

Denn gerade dazu gibt es neue Erkenntnisse. Für den „Report Chefsache” der McKinsey Group wurden jüngst 1688 Berufstätige zwischen 18 und 69 befragt, die mindestens zehn Stunden wöchentlich arbeiten oder in Elternzeit sind. Das Ergebnis: Fast zwei Drittel der Berufstätigen wünschen sich nicht mehr Führungsverantwortung. Und immerhin 10 Prozent derer, die schon Führungskraft sind, wollen gerne etwas von ihrer Verantwortung abgeben. Schon im Oktober 2021 wurden in der Umfrage „Human Centered Lead” der Boston Consulting Group ähnliche Kontexte besprochen. Auch hier das Ergebnis: Nur 14 Prozent der Befragten peilen in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Führungsposition an. Besonders Millennials wollen weniger führen, heißt es außerdem unter Unternehmens- und Personalberatern, von Gen Z ganz zu schweigen.

Es sind aber eben nicht alle. Unsere Autor*innen (weiß, cis, able-bodied) sind beide Millennials Ende 20, als Einzelkinder aufgewachsen, haben studiert (dasselbe Fach) und kommen aus ähnlichen finanziellen wie sozialen Verhältnissen. Wie unterschiedlich die Einstellungen zu einer Zukunft im Chef*innensessel sein können, beschreiben sie hier, in ihrem ersten Streitgespräch. 

Lehren statt leiten –
warum unser Autor kein Chef sein will

„Als meine Mutter in meinem Alter war, spielte sie Basketball, und zwar auf Bundesebene. Ihr Team war so gut, dass sie vielleicht zu einer neuen Riege Sport-Star hätten gehören können. Vielleicht wären sie in der nächsten Saison aber auch wieder abgestiegen. Bevor einer dieser beiden Fälle eintreten konnte, hat meine Mutter jedenfalls mit dem Basketball aufgehört. Das Fazit ihrer Sport-Karriere: „Ich musste nie die Beste in der Mannschaft sein, immer auf den Bank sitzen wollte ich aber auch nicht.” Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr übertrage ich dieses Mindset 30 Jahre später auf mein eigenes Berufsleben.

„Ich will nicht das Schlusslicht sein, kein bloßer Handlanger oder der Assistent auf Lebenszeit. Der ranghöchste Chef aber wird nicht aus mir.”

Von ambitionierten Schüler zu…ja, was eigentlich?

So weit, so allgemeingültig. Bundesliga-Aufstieg oder Abstieg, Mannschaftsbeste oder Bankdrückerin, oberster Chef oder ewiger Praktikant, das sind natürlich Vergleiche der Extreme, zwischen denen sich wohl die meisten Menschen wiederfinden. Ich kann sie dennoch auf meine Karriere-Ambitionen übertragen: Ich will nicht das Schlusslicht sein, kein bloßer Handlanger oder der Assistent auf Lebenszeit. Der ranghöchste Chef aber wird nicht aus mir.

Das war nicht immer so. In schulischen oder akademischen Kontexten hat das Konzept vorgegebener „Ambition” für mich funktioniert. In Gruppenarbeiten übernahm ich gern die Leitung, erfüllte Anforderungen, hatte gute Noten und freute mich, wenn ich in meinen Lieblingsfächern zu den Klassenbesten zählte. Das heißt natürlich nicht, das Chef*innen „die Besten“ sind. Mich aber spornte der Erfolg an der Spitze damals an, diesen Status halten zu wollen oder noch besser zu werden. In der Uni ging das Ganze analog weiter. 

Aufstieg vs. Welpenschutz forever

Auch in den ersten Jahren meines Jobs habe ich als Trainee viele Ziele, die ich als erstrebenswert wahrnahm, mit rotem Faden verfolgt und absolviert. Seit einigen Jahren aber arbeite ich nun eigenverantwortlicher und befinde mich auf einem Level, das man in Stellenanzeigen wohl als „berufserfahren” bezeichnen würde. Viele Menschen werden dieses Level für die nächsten Jahrzehnte halten oder nie verlassen. Wiederum andere werden von hier aus in Positionen aufsteigen, bei denen sich die „Senior”-Steigerungen im Jobtitel häufen. Mit jedem Tag frage ich mich, zu welcher Gruppe ich gehören werde – oder will. Ich gebe zu: Als Schüler, Student, Trainee habe ich es genossen, Welpenschutz zu haben und mich mit Kolleg*innen eher über Entscheidungen auszutauschen, anstatt diese im Alleingang zu fällen, geschweige denn tragen zu müssen. Das könnten wir auf der einen Seite nun pyschologisch ergründen und zum Beispiel auf Unsicherheiten in meiner Arbeitsweise oder Persönlichkeit zurückführen. Oder wir könnten sagen: Anders muss es auch gar nicht sein. 

„Ja, ich strebe nach Ruhm und Ehre. Teile davon gebe ich aber gerne für mehr freie Zeit und Gedanken auf, in denen ich mich meinem privaten Leben widmen kann.”

Ich glaube zwei gegensätzliche Dinge: Zum einen, dass klassische Führungsverantwortung heute den wenigsten Menschen gut bekommt und eher aus der Arbeitsteilung mehrerer Personen bestehen sollte. Andererseits glaube ich auch, dass es Führung in gewissen Bereichen braucht. Eben jene Menschen, die Autorität und Hoheit über Entscheidungen haben. Solche, die mit Freude und Sicherheit Verantwortung übernehmen wollen, manchmal in großem Stil. 

Dieses Level fühlt sich für mein nachdenkliches, harmoniebedürftiges und manchmal eher schwerlich kritikfähiges Naturell nicht richtig an. Ja, ich strebe nach Ruhm und Ehre. Teile davon gebe ich aber gerne für mehr freie Zeit und Gedanken auf, in denen ich mich meinem privaten Leben widmen kann. Disclaimer: Als kinderlose Person ohne große Familien- oder Lebensplanungen befinde ich mich in einer für mich zufriedenstellenden Gehaltsklasse. Sehr hohe Verantwortung lässt sich für mich also auch mit einem entsprechenden Gehalt nicht unbedingt aufwiegen.

Endstation Abteilungsleitung: Der Karriere-Kompromiss

Versteht mich nicht falsch: Meine Arbeit ist mir unglaublich wichtig, oft identitätsstiftend. Verantwortung wünsche ich mir schon. Nach Lernen in Schule und Beruf und einigen Jahren im Arbeitsleben weiß ich aber: So gut wie ich lernen kann, so könnte ich vielleicht auch lehren. Denn für mich besteht darin ein Unterschied: Führung bedeutet für mich, Entscheidungen eher alleinig zu fällen, zu leiten und Hoheit zu haben. Für mich gehört es aber nicht zwangsläufig zu „klassischer” Führung, andere zu unterstützen, ihnen etwas beizubringen und Informationen weiterzugeben. Und genau deswegen halte ich es bei meiner Ambition wie meine Mutter: Mir reicht die mittelgroße Pokal. Auf die Gründung meines Start-Ups oder meinen Titel als CEO könnt ihr lange warten. Als Leiter eines Projekts, eines Ressorts oder einer Abteilung könntet ihr mich in Zukunft aber schon antreffen. Und: Ich behalte mir vor, meine Einstellung zu Führungsverantwortung mit jedem neuen Job anzupassen. Deshalb trefft ihr mich vielleicht doch noch irgendwann als Profi-Basketballer – falls ich die familiäre Karriereleiter um eine Sprosse erweitern muss.” 

The only way is up!
Unsere Autorin hat Bock auf Führungskraft

„Als ich klein war, habe ich oft mit meinen Kuscheltieren, einer Box und einer blauen Decke das Spiel „Wir fahren zur See” gespielt. Natürlich war ich die Kapitänin und hatte meine Mannschaft fest im Griff. Hier Segel hissen, dort ein Leck stopfen und in der Kombüse für alle kochen. In meiner kleinen Plastikbox, aka meinem fantastischem Seegefährt, war ich die Person, die in allen Lagen einen kühlen Kopf bewahrte, für ihre Crew einstand und wichtige Entscheidungen traf. Wo andere in meinem Alter vielleicht auf dem Klettergerüst waren, spielte ich die Vorgesetzte einer zehnköpfigen Belegschaft.

Wenn ich diesen Soft Skill aus Kindertagen heute auf LinkedIn eintragen müsste, würde er wohl als „Führungskompetenz” gelistet werden. Da meine imaginären Referenzen allerdings keine Arbeitsstelle von mir überzeugen, fange ich etwas weiter unten auf der Karriereleiter an. Doch dass ich irgendwann Mal ziemlich weit oben sein will, ist mir schon lange klar. Nicht nur meine treuen Kuscheltiere sind dafür verantwortlich, sondern vor allem meine Mutter. Sie war selbständige Anwältin, sehr engagiert in der Lokalpolitik und einfach das beste Vorbild, was ich mir hätte wünschen können. Allerdings kommt von ihr auch der Drang, nach immer mehr zu streben. Und das nicht, weil das jemals von mir erwartet wurde, sondern viel mehr, weil ich es von mir selbst erwarte.

Meine beste Freundin schiebt es auf mein Sternzeichen – ich bin ein sehr ambitionierter Steinbock. Ich glaube eher, dass es an einem unstillbaren Hunger, aber auch an meinem Ego liegt, dass ich die Karriereleiter möglichst weit hoch klettern möchte.”

Die alten weißen Männer und mein Ego

Seit Jahren befinde ich mich in einer richtigen Trotzhaltung gegenüber den so oft beschimpften alten weißen Männern. Meinen eigenen Status als junge weiße cis Frau kann ich an dieser Stelle natürlich nicht unterschlagen. Aber trotzdem habe ich eine unfassbares Gewissheit in mir, dass ich das, was Männer in höheren Positionen leisten, in ein paar Jahren besser und vermutlich effizienter können werde. Damit meine ich nicht, dass jeder Mann in einer hohen Position unfähig wäre. Aber es ist nunmal einfach so, dass viele Frauen sich gar nicht erst auf eine Stelle bewerben, wenn sie nicht alle 15 Anforderungen der Arbeitgeber*innen erfüllen. Bei Männern reichen schon 10 der Qualifikationen um die Bewerbung abzuschicken. Das ärgert mich seit Jahren und deshalb bin ich bereit, Überstunden zu leisten und auch gelegentlich mein Privatleben leiden zu lassen, um an die gleiche Position wie diese alten weißen Männer zu kommen. Manche mögen sagen, dass das eine toxische und veraltete Einstellung sei. Meine beste Freundin schiebt es auf mein Sternzeichen – ich bin ein sehr ambitionierter Steinbock. Ich glaube eher, dass es an einem unstillbaren Hunger, aber auch an meinem Ego liegt, dass ich die Karriereleiter möglichst weit hoch klettern möchte.

„Mit Altlasten wie Krediten und BaföG-Rückzahlungen und dem Wunsch, genügend Geld für eventuelle Familienplanung zurücklegen zu können, reicht in meinem Kopf der Senior-Titel aber einfach nicht aus.”

Hohe Position = Mehr Geld, weniger schlaflose Nächte 

Während des Studiums hatte ich eigentlich ständig Geldsorgen. Kredit für die Uni, Miete zahlen, dann zwei Jahre Corona ohne Nebenjob. Irgendwie hat es immer geklappt und ich habe das Glück, ein Netz zu haben, das mich immer aufgefangen und auch finanziell unterstützt hat. Aber das nicht grenzenlos. Deshalb war es fast jeden Monat eng. Am Ende musste ich mir doch wieder hier und da etwas Geld leihen, um das WG-Zimmer und die Lebensmittel zu bezahlen. Sei es aus Stolz oder Angst: In so einer Situation möchte ich nicht mehr sein. Trotz Feminismus-Keule und „Wir-dürfen-die-Welt-nicht-den-Männern-überlassen“-Diskurs schwingt also auch ein anderer Faktor mit: In höheren Positionen verdiene ich mehr Geld. Das ist eben Fakt. „Aber muss es denn eine Führungsposition sein, um deine Lebenskosten zu decken?” Ehrlich gesagt: Ja. Ich habe keine bestimmte Zahl vor Augen, weil ich mir Geldbeträge über 700 Euro auf meinem Konto bis vor kurzem gar nicht vorstellen konnte. Mit Altlasten wie Krediten und BaföG-Rückzahlungen und dem Wunsch, genügend Geld für eventuelle Familienplanung zurücklegen zu können, reicht in meinem Kopf der Senior-Titel einfach nicht aus. Was ich mir allerdings am meisten von einer hohen Position mit mehr Gehalt erhoffe: Dass ich endlich einmal ruhig schlafen kann.”

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