Killing Nature First: Wie lebt man heute als Sioux in einem Reservat?

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US-Präsident Trump hat unterschrieben: Die Dakota-Pipeline soll ohne Umschweife fertig gebaut werden. Sie ist nur eine von vielen Entscheidungen der US-Regierung, die die Reservate negativ beeinflußen. Was heisst es wirklich für eine Sioux, mit den Konsequenzen leben zu müssen? Wir haben Juliana Browneyes in ihrem Reservat Pine Ridge in South Dakota besucht.

FOTOS: Jessica Barthel

Pferde galoppieren zum Horizont. Ein Büffel grast in der Ferne. Die Canyons am Rande der Prärie schimmern rosa. Mitten in diesem Karl-May-Traum lebt die 26-jährige Juliana Brown­eyes zusammen mit ihrem Mann Scotti. Ihr baracken-ähnliches Haus steht im Pine-Ridge-Reservat im Südwesten von South Dakota. Sie gehören dem Oglala Sioux Tribe an. Nicht nur die Bilderbuchlandschaft lässt India­ner­geschichten aus der Kindheit aufleben. Julianas Gesicht erinnert an Disneys Pocahontas. Das Klischee ist ­perfekt.

Doch leider trügt der Schein. Nimmerland ist abgebrannt. Pine Ridge ist die zweitärmste Gegend der USA. 80 Prozent der Bewohner sind arbeitslos. „Unsere Landschaft ist schön, aber es ist sehr hart, hier aufzuwachsen. Wir haben die höchs­te Selbstmordrate im ganzen Land“, sagt Juliana. Nicht nur die Selbstmordrate unter Jugendlichen ist viermal höher als der nationale Durchschnitt. Verhältnismäßig viele der Reservatsbewohner leiden an Diabetes, Herzkrankheiten und Alkoholsucht. Für Juliana Browneyes steht der Schuldige fest: „Wir sind immer noch unterdrückt. Die US-Regierung hat unsere Leute umgebracht, fast alle unsere Büffel getötet und uns ein Gebiet zugesprochen, das man nicht ohne Grund die Badlands nennt.“

1890 wurden in Wounded Knee, einem Ort in Pine Ridge, 300 Indianer von US-Truppen ermordet. In den nachfolgenden Jahren wur­den die Kinder des Stamms ihren Familien entrissen, in Inter­nate gesteckt und gezwungen, ihre Kultur aufzugeben. Die Büffel, die frü­here Lebensgrundlage der Indianer, wurden fast ausgerottet. Seit dieser Zeit bis in die 1980er-Jahre hinein wurde den Sioux immer mehr Land entrissen. Was blieb: die unfruchtbaren Badlands. Während der letzten 100 Jahre wurden von den jewei­ligen US-Re­gie­rungen unzählige Versprechen gegenüber den Indianern gebrochen. Den Ärger und Frust darüber ertränken viele Sioux in Alkohol oder versuchen, der aussichtslosen Lage durch Drogentrips zu ­entfliehen.

Juliana gehört zu den wenigen jungen Leuten ihres Reservats, die weder alkohol- noch drogenabhängig sind. Ihr Ventil ist die Musik. Zusammen mit ihrem Mann hat sie die Band Scatter Their Own gegründet. Scotti singt meist. Juliana spielt Bass. Ihre Songs sind weit entfernt von Stammesgesängen. Sie spielen Alternative Rock. Erst bei näherem Hinhören versteht man ihr Anliegen. „Scatter Their Own ist die englische Über­setzung für Oglala – wir haben unsere Band nach un­serem Stamm benannt“, sagt Juliana. Und auch in den Lyrics geht es viel darum, was dem Stamm wichtig ist, beispielsweise Mother Earth zu schützen. In ihrem Musik­video zu „Taste the Time“ wird auf surreale Art gezeigt, wie sich Wasser beim Trinken in dickflüssiges, schwarzes Erdöl verwandelt. Die Idee sei vor vier Jahren entstanden. Juliana ha­be die Szene geträumt und wollte sie in einem Musikvideo verar­beiten. Das Video wurde vor drei Jahren veröffentlicht. Heute ist Julianas Albtraum nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Denn geht es nach der neuen Trump-Regierung, wird die neue Pipeline bald fertig gebaut sein.

Die Dakota-Pipeline soll täglich bis zu 90.630 Tonnen Öl durch North und South Dakota, Iowa und Illinois pumpen. Um­welt­schüt­zer und die Sioux-Indianer sehen den Bau der Pipeline allerdings äußerst problematisch, da heilige Stätten des Stamms zerstört werden und das Trinkwasser der Reservate, das sie aus dem Fluss Missouri beziehen, verunreinigt werden könnte. Trotz Klagen ist der Bau fast fertiggestellt. Es fehlt nur noch der Teil, der unter dem Missouri verlaufen soll. Seit August letzten Jahres verhindert ein friedlicher Protest im Standing-Rock-Reservat, dass weiter gebohrt werden kann. Anfangs protestierten nur einige wenige Demons­tran­ten vor Ort. Nach und nach wurden es immer mehr, unter anderem Politiker wie Bernie Sanders und Celebri­ties wie Willow Smith, Shailene Woodly oder Zoë Kravitz. Im Dezember 2016 hat die US-Regierung noch unter Oba­ma verkündet, die Bauarbeiten zu stoppen und alter­na­tive Routen zu prüfen. Anfang Februar 2017 hat Trump den Beschluss rückgängig gemacht und die Er­laub­nis für die Fertig­stellung der Pipeline erteilt. Ende Februar ­wurde das Standing-Rock-Protest-Camp wegen Überflutungs­gefahr zwangsgeräumt.

Kleine Karte: Standing Rock Reservation in Nordamerika, Große Karte: Orte der Proteste, Pipeline, Badlands, Oglala

Im August 2016 fahren Juliana und Scotti sechs Stunden Richtung Norden nach Standing Rock, um an den Protesten teilzunehmen. Nicht nur um dem Bruderstamm beizustehen, auch Pine Ridge bezieht das Trinkwasser vom Missouri und wäre im Falle einer Verunreinigung betroffen. „Als wir dort ankamen, hatte der Widerstand gerade angefangen”, erinnert sich Juliana. Gerade 80 Aktivisten hätten versucht, über provisorische Barrikaden zu klettern, um zu verhindern, dass die Bauarbeiter an ihre Geräte kämen. Unter ihnen sind auch Juliana und Scotti, die trotz aller Gewaltfreiheit am zweiten Tag der Proteste festgenommen werden. Die Polizisten stellen sie vor die Wahl: Platz räumen oder Festnahme. Juliana und Scotti müssen ins Gefängnis. Nach fünf Stunden werden sie dank der Organisation Earth Justice entlassen. Die Gerichtsverhandlung wird in den nächsten Wochen stattfinden. Auch wenn Juliana noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geriet und die Konfrontation mit der Polizei ein unangenehmes Erlebnis für sie war, bereut sie es nicht: „Ich möchte Kinder haben und sie werden eines Tages von diesem Wasser trinken. Dafür würde ich immer wieder ins Gefängnis gehen.“

Scotti und Juliana auf ihrer Couch

Gerade die Jüngeren verzweifeln unter den Bedingungen in den Reservaten. Allein von Dezember 2014 bis Mai 2015 ­haben im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota 103 Menschen im Alter von zwölf bis 24 Jahren versucht, sich umzubringen. Neun da­von starben. Warum die Selbstmordrate so hoch ist? Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Depressionen – damit haben die Natives per­manent zu kämpfen. Ohne Pause. Ohne Chance, sich zu erholen. Und dann noch die Tatsache, dass andere von dem Land, das den ­Sioux  entrissen wurde, wirtschaftlich profitieren, während sie nichts davon haben. Ruby Gibson, Gründerin des Nonprofit-Beratungszentrums Freedom Lodge in South Dakota, ist der Meinung, die hohe Selbstmordrate resultiere aus dem historischen Trauma – Unterdrückung, Demütigung und Ausgrenzung haben in dem kollek­tiven Bewusstsein vieler Indianer schmerzhafte Spuren hinterlassen.

Pine Ridge ist die zweitärmste Gegend der USA. Die Reihenhäuser gleichen Baracken

Trotz der Ungerechtigkeiten, die den Sioux bis heute widerfahren, erzählt Juliana nie traurig, frustriert, verzweifelt oder verärgert. „Unser Stamm war immer schon sehr friedlich. Das liegt in unserer DNA.“ Sie konzentriert sich lieber darauf, die Situation zu verändern. Mit ihren Songs, die von den Problemen der Stämme handeln, touren die beiden durch die USA und spielen auch Gigs in anderen Reser­vaten. „Ich habe eine Aufgabe, sie hilft mir, diese Probleme zu verarbeiten.“ Und wenn Musik auf sie eine gute Wirkung hat, warum nicht auch auf andere junge Leute in den Reservaten? Juliana bringt Kindern bei, wie man Gitarre spielt, um den positiven Effekt, den sie erfahren hat, weiterzugeben. Denn es gäbe auch gute Dinge, an denen die jungen Sioux festhalten sollen.

Die Zeremonien beispielsweise. Juliana fotografiert sie, um zu zeigen, dass es wert ist, dafür zu leben, diese Traditionen aufrechtzuerhalten. Julianas liebste Tradition ist die Isnati-Coming-of-Age-Zeremonie für Mädchen. Sie wird seit den 1990er-Jahren wieder gefeiert: Ein Mädchen, das ihre Mens­truation zum ersten Mal bekommt, wird von Frauen, die Bedeutung in ihrem Leben haben, mitgenommen und verbringt mit ihnen vier Tage in einem extra für sie dekorierten Tipi. In dieser Zeit wird dem Mädchen erklärt, wie wichtig sie als Frau für den Stamm, für ihre Familie und für sich selbst ist. „Die Zeremonie gibt den Mädchen einen Stolz und ein Selbstbewusstsein, das junge Frauen in der westlichen Zivilisation nicht erhalten.“

Julianas Isnati-Zeremonie war offensichtlich erfolgreich. Sie strotzt vor Selbstbewusstsein und wird sich weiterhin stark machen. Für ihre Traditionen. Für ihren Stamm. Für sauberes Wasser. Auf die Frage, ob Trump nicht den letzten Funken Hoffnung auf den Stopp der Pipeline ausgeblasen habe, antwortet Juliana Browneyes: „Da es sich um einen Vertrags­bruch handelt, haben wir noch die Chance, vor Gericht zu gewinnen. Ich würde lieber sterben als den Kampf für sauberes Wasser aufzugeben.“

 

 

WEITERE INFOS:
standwithstandingrock.net
scattertheirown.com
instagram.com/julianabrowneyes

 

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