Ist Feminismus Narzissmus?

Wie egoistisch sind feministische Ziele? Wir haben drei Leute, die es wissen müssen, nach ihrer Meinung gefragt.

Nie zuvor war Feminismus so stark im Mainstream verankert wie in un­serer heutigen Zeit. Zuletzt protestierten mehr als eine halbe Million Frauen beim Women’s March in Washington/D.C. für ihre Rechte – und weltweit folgten ihnen mehrere Hunderttausend, darunter auch viele Pro­mi­nente wie Madonna, Yoko Ono oder Alicia Keys. Die Rebellion gip­felte in rosafarbenen Pussy Hats, Vagina-Kostümen und Schildern mit klaren Botschaften: „Make women great again!“ Auch große Modemarken spüren die Kraft dieser wachsenden Bewegung, bedrucken Kleidung mit „Girlpower!“-Slogans und propagieren in ihren Kampagnen die Stärke der Weiblichkeit. Doch wenn sich Frauen gegenseitig stark machen, kommen schnell Vorbehalte auf. Das Wort „Feminismus“ hat einen ver­bit­terten Beigeschmack aus Klischees, Vorwürfen und dem Eindruck, dass Feministinnen zwischen dem kollektiven Abfeiern ihres Geschlechts und der gleichzeitigen Scham dafür schwanken. 

Jahrzehntelang haben wir Feminismus als das Ding einzelner Frauen abgetan.

Geschlechtertrennung beginnt schon bei der Wahl der Toilette. Selbst die kleinen Männchen auf den Türen zeigen, wer angeblich die Ho­sen anhat: die männliche Bevölkerung, die unser System prägt und An­sagen macht. Doch immer mehr Frauen fühlen sich davon ständig se­xu­a­lisiert, benachteiligt und gekränkt. Sie gruppieren sich und kämpfen für mehr Rechte, für mehr Respekt, aber vor allem für die Anerkennung, eine Frau zu sein. Sie suchen Schutz bei ihresgleichen und treten dem Feminismus-Club bei. Denn sie können die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft nicht mehr ertragen, wollen den gleichen Lohn für Männer und Frau­en, wollen einen Platz im Chefsessel und wollen nicht mehr bevormun­det werden – erst recht nicht von Männern. Neologismen wie „Mansplaining“ (engl. „man“ + „explain“) zeigen, wie präsent die Geschlechtertrennung sogar beim Streit um Freiheit ist. Feminismus hat den Ruf, reine Frauensache zu sein. Psychoanalytiker wie Hans-Joachim Maaz äußern Bedenken über feministische Tendenzen, die männerfeind­lich und damit beziehungsfeindlich seien und Unterschiede als kollektive Kränkung der Frau ansehen, wofür das andere Geschlecht die Schuld trage und ausgeschlossen werde. Deshalb gibt es von der männlichen Gegenseite regelmäßig Kontra in Form von Vorwürfen wie „Feminismus ist selbstverliebt“ oder „Was ist eigentlich mit uns Männern?“. Geht es hier noch um Gleich­berechtigung oder um einen Machtkampf der ­Geschlechter?

Jahrzehntelang haben wir Feminismus als das Ding einzelner Frauen abgetan. Doch durch das geschärfte Bewusstsein in unserer modernen Gesellschaft können wir nicht mehr leugnen, dass es uns alle betrifft. Dafür braucht es auch keinen US-Präsidenten, der ganz offen all das verkörpert, was Feminismus bekämpfen möchte. Wir sollten trotzdem hinter­fra­gen: Wie egoistisch sind feministische Ziele? Interessieren sich die An­hän­gerinnen wirklich nur für ihre eigenen Wünsche, Interessen und Ziele und las­sen die Penisträger dieser Gesellschaft bewusst außen vor? Wie du mir, so ich dir?

Zoë Buckman

Foto: Zur Verfügung gestellt von Zoë Buckman

Die englische Künstlerin stickt frauenfreundliche 90er-Gangsta-Rap-Lyrics auf Vintage-Lingerie, installiert martialische Ovarien als Licht an der Wand und ist bekennende Feministin.

Insta: @zoebuckman

„Feministen sind nicht selbstverliebt oder egozentrisch. Und ich denke auch nicht, dass man Menschen, die zum Wohle aller für ethnische und sexuelle Gleichheit kämpfen, Narzissten nennen darf. Jeder sollte hinterfragen: Bist du in der Lage, die Welt ganz scharfsinnig zu sehen mit all ihrem offensichtlichen Sexismus und der Ungleichheit in unserer Gesellschaft? Falls du das sehen kannst und grundsätzlich ein Prob­lem damit hast, dann bist du Feminist. 

Feminismus ist kein Girls-only-Ding. Wir brauchen unbedingt Männer, die diese Reise mit uns antreten.

Wir kommen gerade in ein Zeitalter, in dem Ge­schlech­tergleich­heit endlich richtig wahrgenommen wird und eine gewaltige Kraft entwickelt, tat­säch­lich etwas zu bewegen. Es gibt sehr viel zu tun, aber wir werden an einer gerechteren Zu­kunft arbeiten, auch was unser Leben und die Politik betrifft. Ich glaube daran, dass wir unser System auf alle Menschen ausrichten und nicht nur auf Männer. Trotzdem bin ich froh, als Frau geboren zu sein, es ist ein wunderbares Privileg – auch wenn es auf der anderen Seite unglaublich schwierig und unser Weg übersät von Ungerechtigkeit und Hindernissen ist. 

Mein Ziel ist es, durch meine Arbeit Leute in die­ses Thema reinzuziehen und immer wieder Diskussionen über weibliche Erfahrungen anzuheizen. Ich strebe danach, kreative Dialoge zu füh­ren, zum Handeln anzuregen, wenn es möglich ist, und das Bewusstsein zu schärfen. Feminismus ist aber kein Girls-only-Ding. Wir brauchen unbedingt Männer, die diese Reise mit uns antreten. Sie sollten und müssen Teil der Bewegung sein. Und wir brauchen auch die Transgen­der-Gemeinschaft. Um wirklich etwas zu verändern, dürfen wir niemanden ausschließen und müssen intersektional sein. Denn Diskriminierung gibt es nicht nur bei Frauen, sondern auch aufgrund der Herkunft oder der Religion.“ 

Suzie Grime

Die Wahl-Berlinerin macht auf ihrem eigenen You­Tube-Channel regelmäßig den Mund auf: gegen Se­xis­mus und für Feminismus. Sie ist Modejournalistin, Stylistin und Videoproduzentin bei der E-Commerce-App Yeay.

Insta: @suzie_grime

Foto: Zur Verfügung gestellt von Suzie Grime

„Ich denke nicht, dass Feministinnen narzisstisch wären, eher im Gegenteil. Sie sind star­ke Frauen, die von Ungerechtigkeiten derart die Schnauze voll haben, dass sie sich nicht nur für sich selbst, sondern gleichzeitig auch für andere stark machen. Aber feministischer Aktivismus ist definitiv kein selbstverliebter Spaziergang im Park. Viele Generationen von Männern konnten sich bisher auf ihrem Male Privilege ausruhen und entspannt per Handshake die Karriere­leiter hochklettern. Frauen hingegen müssen dop­pelt so viel leisten, um nur halb so ernst ge­nommen zu werden. Genau diese intensive Vorbereitung wird früher oder später zu unserem Vor­teil. Dazu müssen wir aber auch untereinander hilfsbereiter sein und uns gegenseitig be­ruf­li­che Türen öffnen – so wie es Männer ebenfalls für­einander tun. Da draußen gibt es noch so viele talentierte Frauen, die die Welt sehen sollte. Denn heutzutage eine Frau zu sein bedeutet, in der Theorie alle Rechte und Chancen zu ha­ben – aber dann doch regelmäßig wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Zu­mindest ist das meine Erfahrung, was teils unter­schwel­ligen und teils sehr offensichtlichen Alltags­sexismus angeht. Als Frau ist das Leben heute zwar wesentlich angenehmer als noch vor 50 Jahren – ein dickes Fell kann man aber trotzdem gut gebrauchen. 

Für mich bedeutet Feminismus, dass jede Frau tun und lassen können sollte, was sie möchte. Es bedeutet, dass der Wert einer Frau nicht mehr von ihrem Aussehen oder Sexleben abhängt, sondern davon, was sie in ihrem Kopf und in ihrem Herzen hat. Feminismus ist der Kampf für eine Welt ohne Geschlechterklischees. Eine Welt, in der Frauen stark und Männer verletzlich sein dürfen und niemand mehr aufgrund sei­nes Geschlechts, seiner Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung diskriminiert wird. Gleiche Chancen für alle. Denn Feminismus hilft Männern wie Frauen – und das Aufbrechen der Geschlechterrollen führt dazu, dass sie sich nicht mehr gesellschaftlich akzeptierten Ste­reo­typen unterordnen müssen, sondern endlich ein freies Leben leben können. 

,The future is female‘ heißt, dass wir zusammen­halten, emotionale Intelligenz feiern und alles wert­schätzen, was Frauen einbringen – und zwar genauso, wie wir schätzen, was Männer ein­bringen.

Um das zu erreichen, sind wir darauf ange­wie­sen, dass auch Männer der Bewegung beitreten und sich für eine bessere Zukunft einsetzen. Es braucht viel Courage, sich Feminismus auf die Fahne zu schreiben. Ein Großteil der Ge­sell­schaft hält den Third-Wave-Feminismus für überflüssig, sodass einem leider sehr viel Hass entgegenschlägt, der frauenverachtender nicht sein könnte. Man sollte sich immer anschauen, wer eine Feministin narzisstisch nennt. Viele haben einfach nur Angst vor starken Frauen, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Es ist kein Geheimnis, dass sich die Mächtigen schnell vom Erfolg anderer bedroht fühlen und nicht die Kontrolle ver­lieren wollen. Das müssen wir ändern.

,The future is female‘ heißt, dass wir zusammen­halten, emotionale Intelligenz feiern und alles wert­schätzen, was Frauen einbringen – und zwar genauso, wie wir schätzen, was Männer ein­bringen. Es wird nicht mehr ,Sei ein Mann!‘ bejubelt und ,Du bist so eine Pussy!‘ als Be­lei­digung benutzt. In unserem von Männern ge­steu­erten Kapitalsystem dreht sich immer noch alles um das Nullsummenspiel: Wenn ich ge­winne, musst du verlieren. Es gibt Rangord­nun­gen und die Ideologie, dass wir uns gegenseitig kämp­fe­risch schlagen müssen, um zu gewinnen. In einer Zukunft, die weiblich ist, ist jede Person ein Ge­winner. Wir schenken uns ge­gen­seitig Re­spekt und Freiraum, um zu wachsen und zu über­leben. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Studie, von der ich gelesen habe: Zwei weib­liche Bonobo-Affen wurden in einen Käfig gesperrt. Nach einer Weile haben sie ange­fangen, ihre Sachen zu teilen und sich gegenseitig Raum zu geben. Das Gleiche wurde mit zwei männlichen Affen gemacht. Nach einer Woche war der Erste tot. Wir brauchen in der Welt trotzdem beides – die schöpferische Energie der Frauen und die zerstörerische der Männer –, um auf ein Gleichgewicht zu kommen.

Kiran Gandhi

Wenn die indische Amerikanerin  nicht gerade den London Marathon ohne Tampon läuft, um ein Zeichen zu setzen, macht sie feministische Musik unter ihrem Künstlernamen Madame Gandhi. Neben einem Doppelmaster in Mathematik und Politikwissenschaften hat sie auch einen Bachelor in Frauenforschung – und war zuletzt Drummerin bei M.I.A.

Insta: @madamegandhi

Foto: Zur Verfügung gestellt von Kiran Gandhi

Aktuell werden Frauen dazu erzogen, ihre ei­ge­nen Fähigkeiten anzuzweifeln. Wir stellen viel mehr Fragen und wollen dauernd ein Okay für alles haben, anstatt einfach zu tun, was wir wollen. Ich war in Harvard mit wahrscheinlich den schlausten Menschen auf der Welt zusammen und selbst dort haben sich Frauen entschuldigt, bevor sie gesprochen haben. Das hat mich schockiert. Wir sollten uns gegenseitig nicht den Mund verbieten. Wir Frauen können so viel ein­bringen, selbst wenn die Kräfte gegen uns wir­ken und uns davon abhalten, das zu sagen, was wir denken oder glauben. Trotz dieses Drucks liebe ich es, eine Frau zu sein. Im Gegensatz zu Männern verbiegen wir uns nicht, um uns seltsamen Normen anzupassen. Wir wer­den oft einfach unterschätzt, weil das System gegen uns arbeitet. Wir sind in der Un­der­dog-Position, aus der wir mit Erfolg nach oben kommen können. 

Wenn wir Frauen stark machen, ist die Welt einfach besser und nicht egois­ti­scher.

Momentan konzentriere ich mich genau auf diesen Wandel, feiere die Feminität und lasse das in meine Musik einfließen. Meine Mission ist, die weibliche Stimme laut werden zu lassen. Die­se Stimme steckt nicht nur in Frauen, sondern theo­re­tisch auch in Männern, die mit einem X-Chro­mo­som zumindest zur Hälfte weiblich sind. Mir geht es darum, dass jeder sein authentischstes Ich ausleben kann. Feminismus ist nämlich genau das: die Weiblichkeit feiern und feminine Ener­gien zum Kochen zu bringen. Da sind Män­ner definitiv mit einbezogen. Schließlich leiden sie genau unter demselben Druck wie wir Frauen. Aber im Gegensatz zu uns denken sie, dieser Druck sei etwas Gutes, und wollen ,männ­lich sein‘. Ihnen wird eingebläut, dass es gut für sie sei, wenn sie nicht über ihre Gefühle sprechen oder darüber nachdenken, was gerade sie besonders wertvoll und nützlich macht. Daher finden viele Männer, wir sollten uns einfach fügen. 

Wenn wir aber über diese Probleme reden, ohne sie auf ein Geschlecht zu beziehen, dann kön­nen wir auch Männer ansprechen. Wir sehen schließlich viele Typen, die ein ,The future is female‘-Shirt tragen und das nicht, weil sie so inspirierende Frauen in ihrem Leben haben, sondern weil sie die Idee von einer Zukunft mögen, die den ewigen Konkurrenzkampf beendet. Eins plus eins sollte elf ergeben – und nicht zwei! Je­der sollte das Recht haben, für etwas zu kämpfen, um frei sein zu können. Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, gibt es viele Men­schen, die sich dazu berufen fühlen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Feministische Leute opfern sich auf, damit sich an­dere besser fühlen. Und diese selbstlose Art sollte gefeiert und nicht kritisiert werden. 

Klar, manchmal kann Feminismus sehr eigennützig rüberkommen, vor allem in einem kapitalistischen Kontext wie Frauen auf Werbeplakaten mit dem Titel ,Hey, schaut euch all diese Powerfrauen an‘ oder Labels, die erkennen, dass sich Feminismus gut verkaufen lässt und ,Girlpo­wer‘ auf ihre Shirts drucken lassen. Aber: Das hat nichts mit Narzissmus zu tun, sondern eher mit Konsumismus. Wenn wir Frauen stark machen, ist die Welt einfach besser und nicht egois­ti­scher. Bevor man anderen den Stempel aufdrückt, sollte man bei sich anfangen.“

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