Nachrichten nur bewusst konsumieren, mal abschalten, dafür meditieren, nostalgieren: 2021 ist Eskapismus zu neuer Höchstform aufgelaufen. Während viele in diesen Tagen ihre Spotify-Wrapped-Statistiken posten, meidet unser*e Autor*in selbst die Musik. Ein Protokoll.
Na, wie sah euer Spotify Wrapped so aus? Nein, wirklich, ich will’s wissen. Ich gehöre zu denen, die der Musikgeschmack Anderer tatsächlich interessiert, auch wenn’s der kapitalisierte Datenkatalog verpackt als Marketing-Performance ist. Für mich ist mein Interesse an Musik und Pop im Vergleich zu meinem persönlichen Umfeld hoch. Und doch habe ich in diesem Jahr so wenig gehört wie noch nie. Kaum Alben hinzugefügt, kaum Songs geliket, kaum Musikvideos gesehen. An Material gemangelt hat es natürlich nicht, interessiert hat mich das aber auch alles nicht wirklich, obwohl Musik und Pop meine Kern-Interessensgebiete sind, auch in meiner Arbeit. Die bisherige Pandemie aber war meine musikalisch stillste Zeit seit langem. Dabei gibt es doch so etwas wie eine weit verbreitete Annahme, dass unsere Playlisten ein Zufluchtsort wären, oder? Eine Konstante, ein Refugium, auch, wenn sie nicht live performt werden konnten. Mich hat Musik in diesem Jahr weder abgelenkt noch entspannt. Im Gegenteil, eher hat sie den Fokus auf das Chaos in meinem Kopf und Gedankenschleifen über das Weltgeschehen gelenkt. Musik hören als Hintergrundrauschen für Pandemic Anxiety statt Konzentrationshilfe. Ich brauche mehr Eskapismus.
Rückblick mit der Statistik von Spotify Wrapped: Manche wollen 30.000 Minuten Musik hören, andere nur 13.000 oder doch 300.000. Foto: Cottonbro/Pexels
Dauerbeschallung vom Arbeitsplatz bis zum Klo
Wenn ich hier von so einer Realitätsflucht spreche, ist natürlich nicht davon die Rede, die Augen vor den größeren Wahrheiten der Gegenwart zu verschließen. Es ist mir klar, dass Menschen in Deutschland und weltweit gerade jetzt nicht vor den umfassenden realen Geschehnissen und Problemen weglaufen können oder sollten. Und trotzdem tun es viele, bis zu einem gewissen Maß. Mir geht es hier aber nicht um politische Auseinandersetzung über Solidarität oder gesellschaftliche Debatten, sondern eher um kleine Alltagsflüchte. Und das kann eben bekanntlich auch Musik sein, ein guter Song beeinflusst die Stimmung, dies das. Oder eben nicht.
Vermutlich ist das längst schon für viele Normalität, aber meine Konzentrationsspanne ist mit der Pandemie in sich zusammengebrochen. Fast so weit, dramatisch ausgedrückt, dass sie die Dauer eines einzelnen Songs kaum tragen kann. Ich will damit nicht über mein privilegiertes Zeitkontingent oder den ewigen Überschwall an Inhalten jammern. Vielmehr verlagere ich meine verbleibende Konzentration auf Dialoge. Lieber schaue ich jetzt Serien, höre den millionsten Laberpodcasts und Hörbücher, mittlerweile bei jedem Schritt, der nicht Lohnarbeit oder die Interaktion mit anderen Menschen ist. Duschen, Spülen, Aufräumen, Bett machen, Autofahren, Kaffee holen, Einkaufen gehen, Busfahren, den Laptop hochfahren, Putzen, Kochen, Müll rausbringen, zum Einschlafen. Auf dem Klo schaue ich TikToks, die bleiben sowieso der beste Eskapismus.
Er will ablenken, dann von nichts und niemandem hören
Ich lebe allein, also ist die ständige Beschallung ganz dem Klischee nach meine konstante Begleitung. Oft kommt sie in Form von Dingen, die ich schon mehrfach gehört oder gesehen habe. Comfort Binging nennt sich das, falls das nicht schon alle wussten. Momente, in denen es still ist, gibt es trotzdem. Für mich, der schon ein Leben lang immer wieder in Gedankenschleifen festhängt, hat das Verhältnis von Stille natürlich mit dem Alleinsein zu tun. Ob es aber wiederum Gefühlen von Einsamkeit gleichkommt, weiß ich noch nicht. An dem Punkt, in dem quasi jeder Moment des Nichts schon Panik auslöst, bin ich (noch) nicht. Nach genau solch einem Punkt der Stille sehnte sich zuletzt auch eine Freundin, die mir von ihrer eigenen Konstant-Beschallung erzählte, der sie sich hingab, als ihr Freund verreist war. Erst wollte sie sich ablenken, dann nichts und niemanden mehr reden hören. Den Wunsch nach Stille kennt wohl auch jede*r, ob Mensch damit nun gut umgehen kann oder nicht. Bevor’s hier aber zu phraseologisch wird: Bei mir hält so ein Wunsch nach Ruhe eben nur begrenzt lange an.
Auf Durchzug schalten und gleichzeitig aufmerksam bleiben
Sich allem auch mal zu entziehen schlagen mittlerweile von Nachrichtenportalen bis Rap-Stars viele vor, Achtsamkeit liegt sowieso an der Tagesordnung. Meditation habe ich noch nicht ausprobiert, will ich aber auch nicht so recht. Und Musik ist gerade eben auch schwierig. In meinem Social-Feed erzählen Menschen in Medien und Privatpersonen davon, für welche Formen von Ablenkung sie gerade plädieren oder welche Mechanismen sie dafür nutzen. Ich selbst habe für mich noch keinen gesunden Mittelweg gefunden, der mir einerseits dabei hilft, den Kopf auszuschalten und gleichzeitig aufmerksam zu bleiben. Ich werde das antrainierte Gefühl nicht los, dass nicht-musikalische Ablenkung einerseits Berieselung ist, die bei mir aber auch dazu führt, dass ich einen Schlauch im Kopf abklemme, der zu platzen droht. Wo wird Ablenkung zur Ignoranz, wo wirft sie noch mehr Fragen auf und wo ist sie Entlastung? Wenn jemand Tipps hat, keep them coming my way. Bis dahin fahre ich mit der Devise, mir weiterhin ein Bauchgefühl anzutrainieren. Ich gebe mich dem Gedankenfluss hin und greife eben dann auf meine Playlist zurück, wenn ich Lust drauf habe, statt zu versuchen, mich krampfhaft zu entspannen. Sie werden schon wieder kommen, die Momente, in denen mich Songs wirklich entlasten, statt Platz für noch mehr Gedanken und Zukunftspanik zu machen.
Während der Pandemie wenden sich Menschen anderen Plattformen für Musik zu. Ob analoge auch immer noch dabei sind? Foto: Inga Seliverstova/Pexels
Studienergebnis: Wir alle hören weniger Musik
Vielleicht bin ich, gerade wo potenziell der nächste Lockdown bevorsteht, aber auch einfach wieder mal deutlich more basic als ich dachte: Die Forscher*innen einer im Wissenschafts-Journal „Marketing Science” veröffentlichten Studie fanden heraus, dass schon in den ersten Lockdowns 2020 der Konsum von gestreamter Musik bei Spotify weltweit deutlich zurückgegangen ist. Im Durchschnitt war das für zwei Drittel der Länder mit Lockdowns der Fall, hier streamten Menschen um 12,5 Prozent weniger. Für Spotify bedeutete das in den ersten drei Vierteln von 2020 Verluste von über 800 Millionen US-Dollar. Die Ursache läge laut Studie, ganz banal, zum Beispiel darin, dass viele Gelegenheiten zum Musikhören weggefallen seien, wie zum Beispiel das Pendeln zur Arbeit. Musik sei kein alleinstehendes Entertainment, sondern begleite uns eben bei Aktivitäten. Auch finanzielle Mittel, um Abos von Streaming-Portalen zu bezahlen, werden durch Einkommensverluste eingeschränkt. Den allgemeinen Erwartungen der Unterhaltungsbranche, Konsument*innen würden zuhause mehr auf Musikplattformen streamen als je zuvor, sind wir also fast alle nicht nachgekommen. Mit Lockerungen seien die Streaming-Zahlen dann logischerweise wieder angestiegen, heißt es weiter in der Studie. Neue Restriktionen dieser Tage könnten die Abwärts-Spirale aber erneut ins Rollen bringen. Empfehlung der Wissenschaftler*innen: Plattformen sollten sich neue Gedanken machen zu Promotion, Releases und Timing von Musik. Nicht nur ich habe also Interesse daran, dass viele Menschen gerade ihren musikalischen Rückblick teilen. Spotify und Co dürften es mehr sein denn je.
Dieser Text wurde anonym veröffentlicht.
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