Apps wie „Rootd” sollen gegen Panikattacken und Angstzustände helfen. Funktioniert Therapie per Push-Nachricht? Eine Hilfe könnten Apps sein, doch die Hoffnung sei begrenzt, erklärt Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek von der SRH Hochschule Heidelberg.
Dass der Lockdown unsere Psyche beeinflusst? Keine Überraschung. Diskussionen um Wirtschaftsfolgen, Brancheneinbrüche und Maßnahmen-Bingo dominieren die News-Ticker, die psychischen Konsequenzen der letzten Monate sind vielen Menschen längst aber auch nicht mehr unbekannt. „Kümmert euch um eure Freund*innen mit Mental-Health-Problemen”, heißt es gerne mal auf Instagram & Co. Tipps, wie man selbst gegen Negativ-Spiralen ankämpfen kann, sind ebenfalls zu finden. Und dann gibt es Panik-Apps wie Rootd. Die Anwendung ist seit Januar auch auf Deutsch verfügbar und wird als „preisgekrönte App gegen Angst und Panikattacken” beworben, die schon in 150 Ländern Betroffenen mit Panikattacken und Angstzuständen geholfen haben soll. Besonders in Zeiten von Isolation und Lockdown scheint das ein hilfreiches Mittel – und für den Moment zumindest ein wenig seriöser als willkürliche Online-Tipps. Aber funktioniert das, Panik-Therapie per Push-Nachricht? Kann künstliche Intelligenz sogar eine ganze Therapie ersetzen?
Ist eine Panik-App sicher?
Fragen wie diese klärt hier Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek. Sie ist Professorin und Studiendekanin an der Fakultät für Angewandte Psychologie der SRH Hochschule Heidelberg und leitet den Bachelor-Studiengang Gesundheitspsychologie. Für sie sind Apps wie Rootd ein hilfreiches Tool, um Therapien zu unterstützen. Um als brauchbarer Ersatz für reale Treffen zu dienen, hätten Apps dennoch Schwächen, verrät sie im Interview.
Foto: cottonbro/Pexels
Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek über eine Panik-App und ihre Chancen
Frau Dr. Sosnowsky-Waschek, inwiefern ist die Verwendung einer App wie Rootd sinnvoll und vor allem sicher?
Seit März 2020 befindet sich Deutschland im Ausnahmezustand. Bei vielen Menschen führen die Einschränkungen zu sozialer Isolation, Einsamkeit, depressive Verstimmungen nehmen zu, Ängste und Zwängen führen zu weniger Wohlbefinden. Die veränderten Lebensbedingungen rund um SARS-CoV-2 haben einen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Menschen, das bestätigen mittlerweile viele internationale Studien.
Gleichzeitig hat sich die Situation rund um die psychotherapeutische Versorgung nicht wesentlich verbessert. Die Anzahl der niedergelassenen Therapeuten ist weder sprunghaft angewachsen, noch hat sich die Wartezeit für einen Therapieplatz verkürzt. In manchen Regionen beträgt die Wartezeit für eine ambulante Therapie sogar 9 bis 12 Monate! Wissenschaftlich fundierte, alternative, leicht zugängliche Hilfsangebote wie Rootd können also einen sinnvollen Beitrag zur Bewältigung einer aktuellen oder auch chronisch verlaufenden psychischen Störung darstellen. Sicherheitsaspekte wie Datenschutz kann ich hier aber nicht beurteilen.
„Kleine Übungen können helfen, eine sich ankündigende Panikattacke abzuwenden. Die einfache Handhabung und grafisch ansprechende Umsetzung lädt zum Mitmachen ein, alles sieht „knuffig” aus. Allein das ist schon mal sehr positiv zu bewerten.“
Apps wie Rootd basieren auf kognitiver Verhaltenstherapie. Was bedeutet das?
Es gibt eine unglaublich große Vielfalt psychotherapeutischer Techniken und Methoden. Die sind nicht immer klar voneinander abgrenzbar und auch nicht alle gleich gut empirisch belegt oder effektiv. Die Kognitive Verhaltenstherapie gehört als sogenanntes Richtlinienverfahren zu den einflussreichsten und bedeutendsten psychotherapeutischen Verfahren, sie hat Bestnoten in ihrer Wirksamkeit. Zum Repertoire von guten KVT-Therapeut*innen gehören Methoden, die stichhaltig sind. Da wären zum Beispiel Psychoedukation (Informationsvermittlung, Anm. d. Red.), Verhaltensmodifikation, kognitive Eingriffe; Ressourcen, die aktiviert und soziale Kompetenzen, die gefördert werden; Stress- und Problembewältigung, kombiniert mit zusätzlichen Tools wie Entspannungsverfahren usw.
Rootd nutzt bewährte KVT-Tools, die auch bei der Angstbehandlung eine Rolle spielen. Die „Lektionen“ der App erklären zum Beispiel, wie die Angst oder Panik entsteht. Das „Breathr Tool” fördert achtsames Atmen, das „Visualizr Tool” unterstützt durch Körperscans und Aufmerksamkeits-Umlenkungen dabei, achtsamer und gelassener zu werden. Der Panik-Knopf „Rootr” versucht mit Anleitungen schrittweise, die katastrophisierenden Gedanken herunterzufahren. Wenn man solche kleinen Übungen konsequent einsetzt, kann das durchaus dabei helfen, eine Panikattacke abzuwenden, die sich ankündigt. Über Statistiken lassen sich die persönlichen Erfolge dann leicht dokumentieren. Die ziemlich einfache Handhabung und auch grafisch ansprechende Umsetzung dieser Tools lädt zum Mitmachen ein, alles sieht „knuffig” aus. Allein das ist sehr positiv zu bewerten.
Im Rahmen echter psychotherapeutischer Sitzungen werden solche Übungen natürlich viel stärker in das gesamte therapeutische Geschehen eingewoben, individualisiert und systematisch geübt. Ich halte den Effekt bei fehlender therapeutischer Unterstützung deshalb für begrenzt. Eine Wirksamkeitsstudie zu dieser App wäre spannend. Gerade mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen bei der psychotherapeutischen Versorgung wäre es schön, wenn man eine fundierte Aussage treffen könnte, wie hilfreich und nachhaltig sie tatsächlich ist.
Emotionale Beziehung von Therapeut*in und Patient*in wichtig
Welche Teile einer professionellen Behandlung kann eine App wirklich ersetzen und wo liegen ihre Grenzen?
Die App konzentriert sich ganz offensichtlich auf Psychoedukation, Achtsamkeit, Entspannung und ein Stück weit auch darauf, katastrophisierende Gedanken bei der Entstehung von Angst zu entkräften. Ein*e approbierte*r Psychotherapeut*in würde sich bei der Behandlung der Panikattacken und anderer Angststörungen wahrscheinlich aber noch vieler weiterer therapeutischer Interventionen bedienen und die auch mit Patient*innen besprechen, sie üben, anpassen usw. Das alles mittels einer App zu vermitteln, erscheint mir grundsätzlich kaum möglich. Besonders die systematische Problemanalyse, Konfrontationstechniken, kognitive Therapie oder eine umfangreiche Aktivierung von Umfeld und Ressourcen deckt die App nicht ab. Viele Studien zeigen außerdem, dass eine tragfähige emotionale Beziehung von Patient*in und Therapeut*in enorm zum Therapieerfolg beiträgt.
„Eine Therapie sollte und kann die App auf keinen Fall ersetzen. Die professionelle Psychotherapie hat einen deutlich höheren Anspruch an die Wirksamkeit – Lockdown hin oder her. Wir brauchen mehr gut ausgebildete Psychotherapeut*innen!”
Trotzdem befinden wir uns gerade in einer Realität zwischen Infektionsrisiko, Lockdown und eben einem Mangel an Therapieplätzen. Kann eine App da nicht bei rein logistischen Problemen im Umgang mit Angststörungen helfen?
In einem gewissen Umfang ist die unterstützende Funktion der App absolut vorstellbar. Ich schätze aber, dass es auf den Einzelfall ankommt. Für viele Betroffene kann sie eine erreichbare und sehr ansprechend gestaltete Alltagshilfe sein. Eine Therapie sollte und kann die App aber auf keinen Fall ersetzen. Die professionelle Psychotherapie hat einen deutlich höheren Anspruch an die Wirksamkeit – Lockdown hin oder her. Wir brauchen mehr gut ausgebildete Psychotherapeut*innen! Toll wäre es, wenn Therapeut*innen eine Auswahl solcher unterstützenden Apps hätten, die sie wie Zusatzwerkzeug ihren Patient*innen empfehlen könnten. Eine Übersicht solcher „Werkzeuge“ für unterschiedliche Anlässe ist mir leider nicht bekannt, aber lohnen würde es sich allemal.
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Die Panik-App ist auch als Angebot für Unternehmen verfügbar, damit diese sich besser um Mitarbeiter*innen im Home Office kümmern können. Halten sie ein solches Modell für zukunftsfähig?
Die Digitalisierung hält mittlerweile in faktisch jeden Bereich unseres Lebens Einzug – geschäftliche Meetings finden online statt, Einkaufen erfolgt online, Schule und Studium gerade ebenfalls. Dabei ist das Thema E-Mental-Health im Zusammenhang mit der Behandlung psychischer Störungen oder Gesundheitsförderung gar nicht so neu. Einige Start-Ups, die Online-Psychotherapie auf den Markt gebracht haben, haben sich mittlerweile als erfolgreiche Unternehmen etabliert. Nicht zu vergessen ist die Vielzahl digitalisierter Angebote im Bereich Fitness, Gesundheitsförderung, Coaching usw. Die ersten, die auf solche Trends typischerweise reagieren, sind oft tatsächlich Wirtschaftsunternehmen, die ihren Mitarbeiter*innen im Rahmen von betrieblichem Gesundheitsmanagement möglichst flexible Angebote machen wollen. Das hat natürlich Zukunft. Meiner Überzeugung nach kann aber kein Online-Angebot das persönliche Arbeiten mit Klient*innen vollständig ersetzen. Der Kosten-Nutzen-Ansatz ist dabei nicht ganz unwichtig. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass wir die Wirkung digitalisierter Maßnahmen erforscht und verstanden haben.
„Persönlich bin ich davon überzeugt, dass virtuelle Assistent*innen nur für einen begrenzten Teil der Patient*innen eine Alternative zum gut ausgebildeten, echten menschlichen Profi sein werden.“
Konfrontation oder Vermeidung: Welchen menschlichen Kontakt wir brauchen
Angststörungen gehen oft mit einer Sozialphobie einher. Eine App vermeidet ja erstmal den direkten Kontakt mit anderen. Ist das hilfreich? Oder begünstigen virtuelle Assistent*innen sogar eine gefährliche soziale Isolation?
Vielleicht kurz vorab: die soziale Phobie ist eine der häufigsten Angststörungen, davon abzugrenzen ist die Panikstörung. Während bei der sozialen Phobie die Angst vor sozialen Situationen vorherrscht (zum Beispiel die Angst, sich zu blamieren), steht bei der Panikstörung die Angst vor der Angst im Vordergrund. Die Angstattacke kommt ganz plötzlich, wie aus heiteren Himmel, oftmals ohne erkennbare Auslöser. Die App Rootd zielt eigentlich stärker auf Betroffene mit einer Panikstörung als einer sozialen Phobie ab. Insofern ist das Problem um den sozialen Rückzug hier etwas weniger kritisch. Nichtsdestotrotz gibt es viele Patient*innen, die ihr Haus aus Angst vor der Panikattacke eben nicht mehr verlassen, weil sie beispielsweise befürchten, dass keiner da ist und ihnen hilft, wenn eine Angstattacke losgeht.
Trotzdem ist es so, dass die meisten Angstpatient*innen sich sozial zurückziehen und darunter leiden. Das ist Teil des Vermeidungsverhaltens, welches die Angst auch erst nährt. Grundsätzlich ist daher ein zentrales Ziel jeder Angsttherapie, die Patient*innen darin zu unterstützen, soziale Kontakte zu fördern, zum Beispiel dadurch, dass ihre soziale Kompetenz geschult wird. Auf den ersten Blick fördert die App nicht den sozialen Rückzug, sie unterstützt aber auch die soziale Kompetenz nicht. Insofern würde ich ihr zunächst einmal keinen Schaden zusprechen wollen. Aber auch hier gilt: längsschnittliche Daten hierzu wären toll.
Sie sprachen von der Bedeutung der Verbindung zwischen Patient*in und Therapeut*in. Können Sie sich vorstellen, dass virtuelle Assistent*innen die realen Therapeut*innen irgendwann doch ersetzen?
Das wird bereits seit Jahrzehnten diskutiert. Es gibt Software und auch einige sehr ambitionierte Forschungsprojekte, die sich damit beschäftigten. Die Erfolge sind auch beachtlich! Allerdings bin ich persönlich davon überzeugt, dass das nur für einen begrenzten Teil der Patient*innen eine Alternative zum gut ausgebildeten, echten menschlichen Profi sein wird. Hierzu müsste sich unser soziales Leben, das soziale Miteinander ganz grundlegend ändern.
Mitarbeit: Naya Bindzus
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 25. Januar 2021 erschienen.
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